Sunday moaning comin› down-Poetry

S. R. Namredin ist dafür bekannt, dass er sich mit seinen Versen überhaupt keine Mühe gibt. Macht nichts. Er ist, wie er selber sagt, «schon zu alt für die Scheiße!» Und das stimmt.

I hate fucking Radfahrers

Der Winter ist ne feine Zeit
keine Radler weit und breit.

Nun naht der Frühling mit Gevögels Pfeifen
Der Radler pumpt neue Luft in Fahrrads Reifen.

Ich zieh mir meinen Tiefschutz an
Damit der Radler, der Gerechte
nicht zerquetscht mir mein Gemächte.

Das tut er gern, das ist sein Recht
er ist ein Opfer, er ist kein Knecht
er ist ein Vorbild, und auch ein guter Mann
von dem man doch was lernen kann.

Der Autofahrer? ein gemeines Schwein.

Drum zieht er auf dem Gehsteig seine Bahnen
Da hilft kein Fluchen, auch kein Mahnen
Denn der Radler weiß eines ganz gewiss
Auf der Straße hat er richtig Schiss
Dafür muss nun jemand zahlen
Es ist der mit Schuhen, Stiefeln und Sandalen.

Pünktlich und arbeitsscheu

Schweizer stehen im Ruf pünktlich zu einem Termin zu erscheinen.
Dem kann ich nicht widersprechen. Ich bin Schweizer. Und ich bin pünktlich. Und wenn ich einmal nicht pünktlich sein kann, rufe ich an: «Tut mir leid, ich werde mich um einige Minuten verspäten. Ich komme aber sofort, nachdem die den Lastwagen von mir runtergehoben haben.»
So macht man das.
Man sagt «einige Minuten», und das sind immer mehr als 4, aber nie mehr als 20. «Ein paar Minuten», ist als Angabe bereits etwas schwammiger, meint meistens mehr als 3, sollte aber die 10 nicht überschreiten. Mehr als 20 Minuten Verspätung ist ein Grund, einen neuen Termin anzusetzen. Oder für mich war es auch schon der Anlass, aufzustehen und einfach zu gehen.

In Basel hatte ich einmal einen Job beim Stadttheater. Bühnenzumpf, wie man hier sagt, Kulissenschieber, wie’s dort hieß. Im Status eines Tagelöhners. Man konnte sofort, ohne Angabe von Gründen, entlassen werden. Die Bezahlung war besser als gut. Die Kollegen waren Wilde.
Zocker, Trinker, Schläger, Schwerenöter. Oder alles zusammen. Erlaubt war, was gefiel. Wir erschienen betrunken, verkatert, vermöbelt, verletzt, irre, ausgeraubt, gevögelt, verlassen, halbnackt, unrasiert, abgezogen oder vollkommen pleite zum Dienst; und jeden Tag um 8 Uhr Morgens gab es mindesten einen, der sich nur mit Mühe, an einer Kulisse lehnend, auf den Füßen halten konnte, und hin und wieder zum Kotzen rausrannte. Tant pis! Das war gelitten. Aber zu spät kommen, nicht. Ein Mal, okay. Beim zweiten Mal flog man. Auch wenn’s nur 5 Minuten waren. Das war in Ordnung so und wurde von allen, ohne Murren, akzeptiert. Da lernte ich den Sinn des Spruches: «Arbeit ist Arbeit, und Schnaps ist Schnaps», kennen und lieben.

Als ich in Wien am Theater eine Karriere als Bühnezumpf startete, war es etwas anders. Wenn Arbeitsbeginn um 8 Uhr war, dann waren Schlag 8 der technische Leiter und meine Wenigkeit anwesend. Der Rest der Crew trudelte dann so nach und nach ein. Der letzte so gegen 14 Uhr. Der technische Leiter zuckte nur die Schultern. Da kann man nichts machen.
Hier war alles ein Brei. Schnaps ist Arbeit und Arbeit ist Pfirsichkompott. Panthe rei! Alles fließt, und verschmilzt zu einer klebrigen, amorphen Masse. Ist auch okay. Wenn man gerne Kompott mag.

Einige Male arbeiteten wir für Tagespauschalen. Und wenn dann der Letzte einlief, hatte ich schon 5 Stunden Arbeit hinter mir. Und weil der Kollege später gekommen war, ging er dafür ein bisschen früher. Geld kriegten wir beide gleichviel. Macht nichts. Man war ja links. Und solidarisch mit den Schwachen. (Ich habe nichts dagegen, dass diese Zeit vorbei ist.)

Wenn in der Schweiz Pünktlichkeit ein Gebot des zivilen Umgangs, der Höflichkeit und des Respekts ist, wird in Wien sehr gerne mit Unpünktlichkeit die Rangordnung festgestellt. Wer kann sich bei wem, wieviele Minuten herausnehmen? Mich stört die Unpünktlichkeit der andern weniger als meine eigene. Ich rege mich nicht auf. Wenn’s zu lange dauert, gehe ich weg. Es gibt, seit den Handys, keine Entschuldigung für unterlassene Entschuldigungen.

Zur Zeit schreibe ich mit einem Kollegen an einem Theaterstück. Er ist zufällig ein Landsmann. Wir verabreden uns, und arbeiten dann zusammen. Ich gestehe, dass ich es überaus schätze, mir keine Gedanken über nicht eingehaltene Termine usw. machen zu müssen.
Warum? Weil wir gerne den Blick auf’s Wesentliche richten, und die Arbeit dahin kriegen wollen, dass sie so gering und so leicht wie möglich ausfällt. Das hat einen triftigen Grund und
es handelt sich auch noch um eines der bestgehüteten Geheimnisse:
Schweizer sind nämlich arbeitsscheu!

Werden wir Herrn Grandits eines Tages im TV sterben sehen?

Manchmal sehe ich mir «Kulturzeit» in 3Sat an. Ich tue das seit Jahren. Ohne mich jetzt an Namen oder wirklich an Gesichter erinnern zu können, weiß ich, dass die Moderator/Innen der Deutschen und der Schweizer immer wieder gewechselt haben. Jene, die nicht mehr moderieren, treffen wir in anderen Kultursendungen wieder an. Die Frauen haben mit schwellenden Bäuchen moderiert. Und dann hieß es auf einmal: «wir gratulieren Frau Mendelsohn zu ihrem Sohn». Oder so. Mir gefällt das. So kann man sehen, wie es im Leben so zugeht. Im eigenen, wie in dem der anderen.

Über all die Jahre haben nur die Österreicher immer denselben Moderator an die Studiofront geschickt. Den Herrn Grandits. Ich finde, manchmal lässt er schon ein bisschen nach. Er verspricht sich immer öfter als alle seine Kolleginnen beim Ablesen vomn Teleprompter. Und wenn er im Wochenturnus dran ist, muss man sich auf Austro-spezifische, sprich katholische Themen gefasst machen. Gefühlte stundenlange Beiträge über österreichische Autoren, die sich mit Kindsmissbrauch beschäftigen oder ätzende Features über österreichische «Shootingstars» aus Kärnten mit dünnen Stimmchen und unverständlichen Texten. All so Sachen.

Aber so ist das hierzulande. Wird ein EU-Kommisär aus Austria nach Brüssel bestellt, verlangt die Vox Populi, dass er österreichische Interessen vertritt. Warum? Weil man hier partout nicht verstehen will, wie so eine EU funktioniert. Ein wenig so, erscheint mir auch Herr Grandits. Aber sonst ist er ein Symbol für die überbordende Dynamik dieses Landes.

Manchmal fürchte ich, dass ich eines Tages eine Kulturzeit sähe, und würde Zeuge wie der Herr Grandits an Altersschwäche stirbt. Das möchte ich nicht.

Sowas nennt man an der Donau: Pragmatisierung. Oder zu deutsch: Unabänderlichkeit. Es bleibt immer wie es ist. Der Spruch Gustav Mahlers: «Wenn die Welt untergeht, zieh nach Wien. Denn da geschieht alles 50 Jahre später!» gilt immer noch.
Alte Männer bleiben auf ihren Posten sitzen, bis sie von jungen Männern, die bereits auch schon alte Männer sind, wegintrigiert werden. Und weil sie solange um den Posten intrigriert haben, und dabei auch alt geworden sind, werden sie niemals, niemals freiwillig loslassen.

Es gibt in Wien eine Wochenzeitung deren politischen Teil ich für den besten des Landes halte, die ich aber schon länger nicht mehr kaufe, weil ich im kulturellen, im Feuilleton noch niemals auf etwas gestoßen bin, das mich wirklich interessiert hätte. Dabei finde ich in anderen Blättern immer wieder etwas, das mich interessiert. Wenn z. B. überall der neue Walser besprochen wird, dann dort auch. Warum nur? Dazu ein bisschen heimische Bioliteratur. Wie in all den Wiener Buchläden.
Der Chef der Kulturredaktion wird vermutlich in seinem Amt sterben. Denn er wird nirgendwo anders hin können. Schätze ich. Vielleicht liegt es an seinem etwas eigenartigen Gymnasiasten-Schmäh und/oder an seinen Deutschenfimmel. Ich weiß es nicht. Diese Art der Pragmatisierung, die man von den Beamten abgeschaut hat, wurde auch in die anderen Bereiche übernommen.

Der griechische Schriftsteller Petros Markaris hat heute in der Kulturzeit «Griechenland als das letzte europäische Land des real existierenden Sozialsmus» bezeichnet.
Ich muss ihm da widersprechen.
Es gibt noch mindestens ein Land, das da ganz gut mithalten kann.

Ich bin unbewohnt

Gestern geschah etwas sehr seltsames.
Ich bin deswegen zu meinem Arzt gegangen.
Der Auslöser war eine Aussage des sozialdemokratischen Schauspielers Erwin Steinhauer nach der Premiere eines Stücks über den berühmten und beliebten Wiener Volksschauspieler Hans Moser, das dessen ambivalente Haltung den Nazis gegenüber zum Thema hatte. Moser, so die Aussage, sei weder für noch gegen die Nazis gewesen. Und dann kam es:
«In uns allen wohnt ein Hans Moser!», sagte Steinhauer.

Ich erschrak. Ich horchte in mich hinein. Lange. Sollte der «Dienstmann» tatsächlich unbemerkt in mir Wohnung bezogen haben? Ich horchte und horchte. Hörte ich nicht das geraunzte: «Wie nemmern denn?»

Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Mein Arzt war etwas verwundert, als er mein Anliegen erfuhr.
«Könnten Sie bitte mal nachschauen ob der Hans Moser in mir wohnt? Und wenn Sie schon dabei sind, dann sehen sich doch gleich nach, ob da nicht auch noch Gustav Gründgens, Paula Wesseley, Judas oder gar Hitler logieren? Man hört doch immer von kritischen Künstlern, dass diese Typen in uns wohnen sollen. Sehen Sie mal gründlich nach.»

Mein Arzt, ein junger, netter Mann, tat wie ihm geheißen und machte eine Reihe Tests. Bei einem musste ich sogar einen Kopfstand machen um zu eruieren, ob da vielleicht was rumpelte oder umfiel oder ob Hans Moser gar zu schimpfen anfing, weil im der Koffer auf den Fuß gefallen ist.
«Ich kann nichts finden», sagte mein Arzt. «Bei ihnen sind alle Wohnungen, falls es welche sind, noch leer.»
«Nicht mal Hitler?»
«Nicht mal der.»
«Göbbels auch nicht?»
«Keine Spur.»
«Vielleicht James Bond?»
«Na.»

Ich ging wieder nach Hause und drehte den Fernseher an. Da saß nun der Dichter des Dramas im Studio, der Hof-Kraut -und Heimatdichter Franzobel. Mit seinem Haarbüschel am Kinn sah er aus wie ein selbstzufriedener, satter Fernsehkoch. Er diskutierte gerade mit einem Jounalisten (dessen Name ich leider nicht erinnern kann). Der Dichter, der alle gefühlten Tage ein neues Drama krautflutete, vertrat die Ansicht, dass es künstlerische Freiheit bedeutet, wenn er den Moser sagen lässt, «dass er eh die Nazis wollte», obschon das in keinster Weise belegt war. Der Journalist war anderer Meinung. Ich eigentlich auch.
Aber mit Lappalien, wie historischer Wahrheit, hält sich auch ein Herr Röhler in seinem Film «Jud Süß» nicht auf, und macht aus der Frau des Jud Süß-Darstellers Marian einfach eine Jüdin. Das dient dann zur Herausarbeitung von Emotionen und dem Zuspitzen von Konflikten. Sowas lernt man in jeder «Kronenzeitungs-Journalistenschule».

Dann dachte ich darüber nach, warum wohl der Schauspieler Steinhauer gesagt hatte, dass Hans Moser in mir wohnt, obschon das nicht wahr ist. Es gibt eine Erklärung: Man nennt es auch Projektion. Der Mann schließt von sich auf andere.
Es gibt auch noch andere Erklärungen: Er hält uns für Deppen. Oder sich selber für ein Genie, dass den Deppen sagen muss, was sie empfinden und wer in ihnen wohnt. Möglich sind auch alle Gründe zusammen genommen.

Also, ihr Dramatiker, Autoren, Filmemacher und Zirkusclowns, hört her:
Ich bin unbewohnt.
Und ich möchte euch mit den legendären Worten des Jon Webb zurufen:
«Hört auf mich ins Ohr zu pimpern, Kollegen, fickt euch lieber ins Knie!»

Sunday moaning comin› down – Poetry

H.P. Gansners Gedicht zum Valentinstag erscheint nun eine Woche später. Wir finden, das macht nichts. Entweder ist Valentinstag jeden Tag oder er ist gar nicht.
H.P. Gansners Poetryband «herz» erscheint April-Mai 2010 bei Songdog in der Reihe SongdogPoetry.

sonderbewilligung

1.
lady herzeloyde (21)
und captain beefheart (24)
trafen sich zufällig
am letzten freitag
um mitternacht
am tresen der disco
the heartbreakers

wer wen? sagte sie schnippisch
nach einer bloody mary
lassen wirs drauf ankommen!
antwortete er
und kippte seinen pink panther
hinter die krawatte

2.
und jetzt ist schon sonntag abend
und die bewohner des viertels
finden immer noch keinen schlaf
weil im hotel an der ecke
ausnahmsweise tag und nacht
gehämmert und gebohrt werde
wie gesagt wird

und das am wochenende?
fragen die leute etwas ungläubig
sonderbewilligung!
heisst es vielsagend

Genie und Opfer

Gestern war wieder Österreich.
Und am meisten Österreich ist, wenn das Opfer und das Genie, zwei ausgewiesene und überaus beliebte Spezies dieser wunderschönen Skination aneinander geraten. Irgendwie.
Das Genie, bekannt aus Rundfunk und Fernsehen, hat einen Roman geschrieben. In diesem Roman tummeln sich Opfer, in Rundfunk und Fernsehen bekannt als Politiker, Kärntner Landesheilige und verehrte Bankrotteuere in Korruptanien; Lebensmenschen, Liebhaber und Witwer.

Das Opfer zog vor Gericht und klagte das Genie. Das Genie reist im Lande herum und liest dem geneigtem Publikum, das sich gerne an Persönlichem, Abgründigen und Antinazikitsch delektiert, aus dem Opus vor. Das Opfer will was? Ein Verbot des Buches? Wie jenes für «Ezra» von Maxim Biller? Aber nicht doch. Es möchte partizipieren am Ruhm des Genies. Mehr noch an der Penunze, die der Verlag für das Opus einfährt. Denn ist nicht der Ruhm und die Fama des Opus vor allem dem öffentlichen Aufschreien, und der eingebrachten Klage, geschuldet?
Und das Opfer hat natürlich recht. Eigentlich hat es rechter. Es befeuerte mit Tattoo-Delphin, Solariumbräune und Wortspenden (Lieblingswort: Flocke) und anderen intimen Details das Interesse des Publikums. Warum soll es dafür nicht bezahlt werden?

Das Genie bedankte sich auch artig in einer Tageszeitung für die Werbung, die das Opfer mit der Klage, gemacht hat. Das Publikum kommt auf jeden Fall auf seine Kosten. Hier wird mal ein Schwein zur Schnecke gemacht. A Hetz. Das ist süß. So was gefällt. Das Genie ist auch froh, dass der Markt so funktioniert, wie er eben funktioniert. Alte Weckerln finden reißenden Absatz, wenn sie in der Mikrowelle des Wohlfeilen und Risikofreien aufgebacken werden.

Gestern war wieder Österreich. Die Klage des Opfer wurde im Namen der Kunstfreiheit abgewiesen. Jene Justiz, die sonst immer so reaktionsschnell und/oder vorauseilend auf Zurufe aus dem Boulevard reagiert, hat mal wieder allen gezeigt wie sehr sie Gerechtigkeit und Freiheit im Rechtsstaat schützt.

Gestern war wieder Österreich.
Das Genie nennt sich selber nun in einem Atemzug mit Bernhard, Jelinek, Qualtinger.
Sapperlot, aber auch!

Versehrte und Krüppel

Mit einem Mal war sie vor mir. Heute morgen. Auf meinem Weg zum Geisteszentrum. Ecke Starhembergergasse/Rainergasse. Ihr rechtes Bein war ein gutes Stück verkürzt, so dass sie, um im Gleichgewicht zu bleiben, mit dem rechten Fußballen auftreten musste. Es machte daher den Anschein, dass sie das Bein nachzog. Irgendwie. Es entstand dabei ein schleifendes Geräusch. Ich ging eine Weile hinter ihr her. Seltsam berührt. Nicht weil sie jung war, sondern wegen etwas anderem.

Ich dachte an die Zeit, als ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Wien kam. Eins der Dinge die einem Schweizer damals sofort auffielen, war die große Anzahl Einbeiniger an krücken, Armamputierte oder sonstwie Versehrte. Ich nahm das erst irritiert zur Kenntnis, dann dachte ich darüber nach. Und beim Nachdenken kommt man drauf, dass dieses Land doch den einen oder anderen Krieg mitgemacht hat. Ist allerdings der Stadt als solche nicht anzumerken, da die Russen beschlossen hatten, Wien nicht zu plätten. Die Wiener wohnen immer noch in denselben arisierten Wohnungen der Juden und in den Hauptquartieren der Nazis. Vielleicht mal neu gestrichen. Vielleicht auch nicht.

Aber an den Menschen war der Krieg nicht spurlos vorbeigegangen. Man konnte ihn sehen. Die Versehrten. Die Krüppel. In jeder Straßenbahngarnitur saß mindestens einer auf den gekennzeichneten Sitzen. Einbeinige auf Krücken. Leere Jacketärmel. Hinkende. Einäugige. Blinde mit den gelb-schwarzen Armbinden. Sehende mit Armbinden.

Heutzutage sieht man keine Einbeinigen mehr. Keine Versehrten. Sie sind inzwischen alle tot.
Die einzigen Krüppel die man noch sieht, sind die Bettler aus dem Osten. An ihnen kann man noch die Versehrungen sehen, die man vor zwanzig auch bei Veteranen sehen konnte.

Aber dafür kann man nun andere Verkrüpplungen sehen.
Z. B. in einem Hotel im Waldviertel. Wiener Pensionisten. Alle nur unwesentlich älter als ich, aber bereits mit Gehhilfen. Der Körper, ein dicker Sack. Dieser Sack hat Beine, um ihn zum Trog zu tragen. Dieser Sack hat Arme, damit man was in ihn hineinstopfen kann. Dieser Sack hat Hände, damit er die Zigarette, die den ganzen Tag unausgesetzt brennt, abaschen kann.

Wenn man das gesehen hat, empfindet man so ein einbeiniges Dasein beinahe als vernachlässigebares Handycap. Nicht zu reden, von einem verkürzten Bein.

Sunday moaning comin› down-Poetry

«Sunday moaning» musste ausfallen, da es dem überarbeiteten Blockbetreiber nicht gelang, das Valentinsgedicht des Dichters H.P.Gansner hochzuladen. Es war Waldviertel, senza internet, und ohne Internet ist auch keine Poesie…

Lang lebe «Mörtel» Lugner!

Wer einmal die kulturellen Highlights Kärntens besuchen durfte, Feuerwehrfeste, wird, falls es ihm gefallen hat, auch einem Besuch des Wiener Opernball nicht abgeneigt sein. Nun, ich werde mich hüten, die wichtigsten kulturellen Ereignisse dieses Landes zu geißeln. Feuerwehrfeste und Opernball. Die eine Seite, einer 1-seitgen Medaille. Es wäre zu einfach. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt, sind beide durchaus verwechselbar.

Hingegen mag ich den Hofnarren dieser wüsten Walzerschinderei, den Baumeister Lugner, einen Anarchisten reinsten Geblütes, das errigierte Fähnlein der Verschlagenheit und ruhmredigen Bauernschlauheit.Ich ziehe meinen Hut vor seiner sagenhaften Indolenz. Niemand steckt den Hass der verekelten Wiener Society besser weg als Mörtel, mit seinem scheuchblöden «Katzi». Wie gerne würden sie ihn loswerden, den ollen geilen Parvenü, den einzig wahren selfmade-man (nebst Niki Lauda) des Landes. Wie gerne würden sie ihn eintauschen gegen ein paar gewalttätige Opernballdemos vor dem Haus? Aber er bleibt ihnen erhalten. Noch immer ist er reich genug. Noch immer kümmert es ihn nicht wirklich, was man von ihm hält. Solange eine Kamera draufhält, würde er auch öffentlich seinen Schwanz piercen lassen. Die Haute Volée ist derrangiert. Disturbed. Lugner ist ihr Affe, der sie schamlos imitiert. Wie der Bonobo im Zoo, der sich vor Publikum ungeniert einen von der Palme wedelt, während er dir direkt ins Antlitz blickt.
Ich finde man sollte ihm eines Tages ein Staatsbegräbnis servieren und seinen Corps in einem Wiener Ehrengrab versenken.
Das ist man ihm schuldig. Dem titanischen Alleinunterhalter dieser verlotterten Stadt.
Lang lebe Mörtel Lugner!

P.S. Der Autor begibt sich, zwecks konzentrierter Arbeit ins Waldviertel. «Sunday moaning» wird möglichweise etwas später erscheinen. Mit einem Valentinspoem von H.P. Gansner.

Glossen der Betulichkeit

Ich bin alt. Das merkt man am ehesten daran, dass ich immer öfter sage: Damals. Und, früher. Aber vor allem: Früher war’s besser. Das stimmt natürlich nicht ganz. Aber in vielen Dingen schon. Zum Beispiel Lesungen von Autoren und Dichtern.
Ich war in den 80-ern dabei, als Kiev Stingl in Zürich auf der Bühne mit Gitarrenkoffern beworfen wurde. Warum? Weil er im Vorfeld der Lesung den Wunsch geäußert hatte, eine Zürcher-Dame möge ihm doch auf der Bühne das Horn blasen. So was kommt bei Puritanern nicht so gut. Die Zürcher-Herren fühlten sich als Beschützer der Damen und der Sitten angesprochen und attackierten den Dichter während des Vortrags. Bis dann der Autor und Verleger Matthyas Jenny, der zuvor schweigsam und sonnenbebrillt sich einer Flasche Ballantines gewidmet hatte, zu Stingl auf die Bühne kletterte. Er schnappte sich eines der «Stingl go home»-Schilder und verteidigte damit das freie Wort.
Ich will damit sagen: Man wusste im Vorhinein nie genau, was passieren würde.

Gestern Nacht besuchte ich mit einem Freund die «Rote Bar» des Wiener Volkstheaters.
«Ein Eidgenosse in Kakanien», lautete der vielversprechende Titel einer Lesung mit Charles Ritterband, dem NZZ-Korrespondenten für Österreich. «Ein Eidgenosse in Kakanien»? Das klang nach Konflikt. Das interessierte mich. Bin ich doch selber, nach mehr als zwanzig Jahren in Wien, auch ein «Eidgenosse in Kakanien».

Das erste was geschah, war, dass Ritterband einen Königspudel auf die Bühne stellte. Das versprach einiges. Hatte der Autor vor, in die Vollen zu gehen? Hatte er ätzende Schmähungen der verlotterten Wienerseele in Petto? Beschimpfungen, die das Publikum erzürnen könnten? Und er, als Kenner der Wiener Seele, wusste ganz genau, dass ein Eingeborener niemals mit einem Glas nach einem Schweizer werfen würde, falls dabei die Möglichkeit bestand, dass ein Hundsviecherl etwas abbekommen könnte. Oder war es doch eine Unterwerfungsgeste? Seht her, ich besitze einen Hund. Ich kann also kein ganz schlechter Mensch sein. Ich bin doch einer von euch. Tut mir nichts.

Nach zwei Minuten wusste der geneigte Zuhörer wie das Hundetier auf der Bühne zu interpretieren war. Ritterband machte einen guten Job. Politiker-Schnurren. Harmloses, gekonnt vorgetragen. Gekonnt (wenn es das gibt) geschrieben. Auch ein bisschen Sprach-Patina lag auf den Preziosen, ganz so, wie es sich für anständige Herren gehört, die über Wien glossieren (und ihr Buch verkaufen wollen).
Die berühmt-berüchtigte Hass-Liebe von Bernhard und Konsorten, durfte natürlich nicht fehlen, und wurde als Mozartkugel auf’s Nachtkastl gerollt. Eins war klar: hier war kein «Eidgenosse in Kakanien», sondern hier saß ein Semi-Wiener mit Königspudel, der sein Buch verkaufen wollte. Glossen der Betulichkeit. Und recht hat er, mag man sich resigniert denken. Am Ende der Saison ist immer Ausverkauf.
Ich werde mir für meine nächste Lesung auch ein Accessoire zulegen. Vielleicht meinen Navy-Colt oder eine Blindschleiche.

Ich bin alt.
Früher war’s besser.
Damals.
Lass uns einen saufen gehn.
Das funktioniert noch immer.
Da war’s früher nicht besser.
Das bleibt sich immer gleich.
Wenigstens etwas.

P.S. Auf dem Lesetischchen, neben dem Glas Bier, war auch noch ein Tropenhelm.