Liebe Gemeinde,

das Jahr 2009 war ein Jahr mit fett Nullen. Das ist jetzt vorbei. Fast. Das neue Jahr, 2010, hat ebenfalls fett Nullen. Nur ein wenig anders arrangiert. Man könnte, um einen Vergleich zu bemühen, sagen, das Fett hängt nun nicht mehr nur auf der Plauze, sondern auch am Arsch. Schaut besser aus. Ist aber vom gesundheitlichen Aspekt her nicht wirklich eine Verbesserung, da der Fettanteil insgesamt nicht gesenkt wurde. Und während die 9 noch einen stämmigen und ansehnlich muskulösen Eindruck zeitigte, macht so eine 1 nicht wirklich viel her. Es besteht also enormer Trainingsbedarf, und so dürfte es noch ein ganzes Jahr dauern bis die Fetten abtrainiert und die Muskelmasse mit einer weiteren 1, zu 2011, verdoppelt werden kann.

Der Autor bei der Arbeit (Ansprache)
Der Autor bei der Arbeit (Ansprache)

Liebe Gemeinde,
so sieht es aus. Wer Bilanz ziehen mag, mag Bilanz ziehen; wer nicht, der nicht. Wir wissen aus Erfahrung, dass gute Vorsätze den Weg zur Hölle pflastern. Lassen Sie das Vorsetzen und Vorsätzen. Nehmen Sie sich nicht vor, mit dem Pofeln aufzuhören, denn Sie werden es nicht schaffen. Süchte wird man nur mit übergroßem Leidensdruck los. D.h. begeben Sie sich auf dem Pflaster der Vorsätze direkt in die Hölle, und sie werden einiges schaffen. Vorher eher nicht.
Nehmen Sie sich gar nichts vor. Aber auch das ist ein Vorsatz, also lassen Sie es. Lassen Sie alles fahren. Kommen Sie nach Wien und lassen Sie sich von betrunkenen Grenzdebilen aller Herrenländer die Trommelfelle mit Krachern voll Nudel machen, trampeln und rempeln Sie sich durch den Silvesterpfad, saufen Sie sich die Hucke voll, und seien Sie lustig, wenn Sie’s nötig haben, lustig zu sein. Chacun à son gout, wie der Berner Oberländer sagt.

Wir hier, liebe Gemeinde, wir machen einfach weiter unseren Job. Uns Autoren ist es vollkommen blunzen was für ein Jahr ist. Wir stehen auch diese Feiertage durch, mit all den Amateursäufern und ihrem Zwang zur Fröhlichkeit und zum Kauf von Glücksbringern. Wir glauben nicht ans Glück. Wir Autoren glauben ans Schreiben und an die Arbeit, an Großzügigkeit, Rache, Herzensgüte und Nassrasur. Wir glauben daran, dass man sich tüchtig verirren, und trotzdem wieder auf den Weg kommen kann. Wir glauben an Drogen und Alkohol. Manchmal an die Liebe. Und wir glauben daran, dass wir uns bemühen müssen. Wir glauben an die Freiheit und an gute Gedichte, und an die grundgütige Wirkung von rotem burgenländischen Wein und viel Sport.

So, liebe Gemeinde, sieht es aus. Aber das sagte ich bereits. Aber ich sage es halt gerne, denn auch wir altruistischen Autoren, die wir unsere Gemeinde mit Gratis-Erbauung versorgen, brauchen unsere kleinen Freuden.

Liebe Gemeindemitglieder, bleiben Sie uns gewogen.
Wir hier, auch die Grant- und Meckerecke, wünschen allen und allinnen die guten Willens sind, ein feines und trainingsreiches neues Jahr.
Prosit.

Ihr Bloggerteam

Vor-Silvester-Haiku eines liebenswerten Skeptikers

Saerdna Namredin (* 1926) Aufgewachsen in Konolfingen, wo er mit Friederich Dürrenmatt befreundet war. Der Sohn eines malayischen Bullenkastrators und einer norwegischen Wikingerbootsbauerstochter von den Lofoten, kam durch seinen Freund Dürrenmatt zum Schreiben, dessen Werk er nicht unmaßgeblich beeinflusst hat. So soll Dürrenmatt die Figur der «Alten Dame» ganz nach seinem Vorbild gestaltet haben, ebenso die Figur der Aufseherin in «Die Physiker». Namredin lebt heute zurückgezogen auf einer Hühnerfarm in Hilterfingen, wo er sich um die Zucht der Kapaune kümmert.

Das neue Jahr naht
Es sei mir hoch willkommen
Hab ich denn die Wahl?

Sunday moaning comin› down – Poetry

Andreas Niedermann
Zu diesem Gedicht inspirierte mich der Song «Hemingways Whisky» des von mir sehr verehrten Singer/Songwriters Guy Clark. («Hemingways whisky, warm and smooth and mean…») und Hemingways briefliche Klage an einen Freund: «Ich hätte nie geglaubt, dass man mir den Wein wegnehmen kann. Aber man kann.»

Guy Clarks song: http://www.youtube.com/watch?v=YaJCJ3GQVy0


Hemingways Blutdruck

Hemingway hatte manchmal einen Blutdruck
von 125 diastolisch zu 250 systolisch
und die Ärzte sagten, er müsse auf 175 Pfund runter
auf die 79 Kilogramm eines Halbschwergewichtlers.

Hemingway war etwa 190 groß.
Was glauben diese Ärzte eigentlich?

Ich hatte mal einen Blutdruck von 115 zu 220
und mein Herz schlug so unregelmäßig
wie meine Einkünfte reinkamen
Und ich dachte an meine Großmutter die starb
weil sie ihre Blutdrucksenker absetzte.

Ich fragte mich
ob‘s zu Hemingways Zeiten noch
keine Betablocker gab
und all die andern Sachen
die es uns ermöglichen
trotz allem einen guten Schluck zu nehmen?

Hemingway glaubte ans Schreiben
und ich tu es noch
aber auch ein Blutdruck
von 80/120
hilft keinem Dichter
wenn er nicht mehr schreiben kann.

Spiel mir das Lied der Harmonika

Gestern spielten sie wieder mal «Once upon a time in the West», der auf Deutsch halbsinnigerweise: «Spiel mir das Lied vom Tod» heißt. Dieser Film ist nicht nur der Western mit dem schärfsten Suspense, sondern auch ein Meilenstein in der Kinogeschichte und gehört zum Weltkulturerbe; ein Drama von wahrlich Shakespearschen Ausmaßen: Gier, Rache, Liebe, Korruption, gigantische Lebensträume, Cleverness, Mut, Sadismus und so weiter und so fort.
Und der Regisseur Sergio Leone hat zusammen mit dem Komponisten Ennio Moricone nicht nur ein beeindruckendes und unvergängliches Kunstwerk geschaffen, sondern er hat uns auch gezeigt wie die Hautporen von Charles Bronsons Augenpartie in Cinéscope aussehen: Nämlich wie Oma Lummermanns Schmalztöpfe.

Und trotz alledem hat der Film einen Fehler. Sogar zwei. Und ich gäbe einiges darum, den Hergang der Konflikte in der Filmcrew, die es zweifellos gegeben haben muss, als Story nachgeliefert zu bekommen.
Die Fehler sind für jeden erkennbar, obschon sie nur Details betreffen und kaum jemandem auffallen mögen. Aber wenn man weiß, wie besessen Leone an Details gearbeitet hat, am setting – die fama geht, dass er stundenlang Ketten und Gerätschaften in einem Stall umhängen konnte, bis er endlich «Action!» flüsterte -, der ahnt, dass bei dieser Angelegenheit wohl nicht die Colts, aber sicher die Köpfe geraucht haben müssen. Aber damals, in den 60-ern gab es noch keine Digitalkameras, die es den Requisteur/Innen und Scriptgirls – denn auf deren Konto geht der Fehler – anhand von Mustern erlaubten, die Positionierung und den genauen Einsatz der Requisite zu überprüfen.

Die Fehler betreffen den Showdown. Als sich Frank und Harmony zum finalen Duell gegenüber stehen, wird dem Zuschauer durch Rückblenden klar, warum Harmony Frank gejagt hat, und auch warum er die Mundharmonika blies. Wir sehen nun den jungen Harmony, auf dessen Schultern sein Vater steht, die Schlinge um den Hals. Wenn Harmony die Kräfte verlassen, stirbt der Vater. Der sadistische Frank hat Harmony eine Bluesharp zwischen die Zähne gesteckt.

Die Blechverkleidung der Bluesharp ist, wie wir in der ersten Einstellung (eine Nahaufnahme) sehen können, oben eingedellt, als hätte Harmony draufgebissen. Schnitt zum Duell. Wieder Schnitt zur Hängeszene. Nun ist die Delle unten, als hätte Harmony sie als Kunststückchen (seine Hände sind auf den Rücken gefesselt) mit der Zunge umgedreht. Schnitt zum Duell. Wieder Schnitt zur Hängeszene. Jetzt ist es eine ganz andere Bluesharp. Glänzend, ohne Delle, brandneu.

Anzunehmen, dass dieses Detail sowohl dem Cutter als auch Sergio Leone beim Sichten der Muster entgangen ist, ist so wahrscheinlich, wie Frank vor dem Duell zu den Zeugen Yehovas konvertiert.
Dass diese Szene, fehlerhaft wie sie war, einfach drin blieb, ist ein Ding. Mehr noch: Eine Story. Ich hoffe, dass ich sie eines Tages erzählt bekommen werde.

Weihnachtspoem

Henk (* inconnu) soll, nach eigenen Angaben, ein Großneffe Else Lasker-Schülers sein. Aber es gibt auch Stimmen, die das entschieden zurückweisen, und die sagen, dass er die Frucht eines Ausrutschers von Fix und Foxi ist. Es gibt aber auch noch andere Stimmen…

Das einzig wahre, wahre Weihnachtsgedicht

Weihnachtsgedichte verfasste der Poet
trank dazu eine bouteille Moet
den Chandon ließ er weise stehen
es sollt ihm nicht wie letztes Jahr ergehen.

Als er mit Tippen fertig war
begab er sich zur Krippenbar
den Stapel Gedichte unterm Arm
Ochs und Esel hielten alle warm.

«He, Hirt, schenk mir mal einen ein
aber nicht von jenem billgen roten Wein,
nimm den trocknen, teuren, guten
sonst lass ich deine Nase bluten!»

Josef kam nun geschwind heran
ahnte Ärger mit dem Dichtersmann
«Respekt, du oller Zeilenschinder
hier im Raum sind auch noch Kinder.»

«Fein, dass ich dich hier noch sehe
hab Gedichte über Christkinds «Wohl und Wehe»
und hoffe schwer, du hast auch was für mich
denn umsonst da dicht ich nich.»

«Was heißt denn hier umsonst, du Löl
bist doch fett und längst im Öl
so eine Magnum Flasche Moet Chandon
ist als Gage wohl genug, pardon!»

So stritten Josef und der Mann der Worte
zuerst piano, adaggio und dann forte
in der Krippenbar gings richtig zu
selbst der Ochs wollt nun ne Kuh.

Der Streit schwoll an, s’war nicht mehr klass
Maria fand’s öde, ziemlich krass
sie wusste aus Erfahrung vergangner Zeiten
Weihnachten ist nun mal die beste Zeit zum Streiten.

Als der Zoff zu einem Ende fand
und Maria Josefs Kopf verband
dachte blutend unser arm Poet
der Chandon war’s diesmal nicht, wohl eher der Moet.

Der Irokese der Ironie

Der Ex-Chefredakteur des «Blick» Schweiz, Peter Übersax ( «Blick» ist nicht wirklich mit der Dreckschleuder «Kronenzeitung» oder dem Blatt für Anal-fabeten «Österreich» zu vergleichen, aber in dieser Angelegenheit tickt man unisono) tat mal den verdienstvollen Ausspruch: «Blick-Leser und Kinder verstehen keine Ironie».
Das habe ich mir gemerkt. Und es an meinen Kindern ausprobiert. Ich habe ihnen das Ding mit der Ironie auseinandergesetzt, und meine damals gerade schulpflichtige Tochter kam relativ schnell auf den Trichter, und die Tochter eines Freundes ebenfalls, denn sie sagte von mir: «Er macht immer so Witzli!»

Also Kinder verstehen Ironie. Blick-Krone-Österreich-Leser verstehen wohl noch ganz andere Dinge nicht, und viele von ihnen sind bereits überfordert mit dem Finger auf ihren Arsch zu tippen, wenn man ihnen die Augen verbindet.

Nun ja, was ist eigentlich Ironie? Man könnte sagen: Eine Lüge. Eine Lüge als Werkzeug, um die Wahrheit besser herausarbeiten zu können.
Die Ironie hat einen großen Bruder. Er ist ein wenig grob, liebt derbe Späße und schert sich wenig um die Gefühle der anderen. Er hat einen großen Hammer mit einer scharfen Schneide auf der einen Seite. Sein Name ist Sarkasmus.
Und während die Ironie sich Mühe gibt, kühl und sachlich zu erscheinen, trabüttelt der große Bruder Sarkasmus gerade heraus, er hat sozusagen ein Emotions-Problem, das er oft mit Hohn und Spott zu kaschieren versucht. Oder auch nicht. Denn eigentlich mag er keine Kaschur. Nicht mal Broschur, und überhaupt nicht die Glasur oder Sanduhr.

Ich mag beide gerne. Sie sind mir immer hochwillkommen.

Nun begab es sich aber, dass ich langsam immer mehr den Eindruck gewinnen musste, dass die Welt weniger aus Kindern, aber dafür umso mehr aus «Blick»-Lesern besteht. Fast nur noch «Blick»-Leser?
Denn neulich bekam ich eine Mail, mit der freundlichen Aufforderungen, etwas gegen einen rassistischen Kommentar zu einem meiner Blogeinträge zu unternehmen. Es handelt sich um Florian Vetschs Gedicht als Kommentar zu meinem Blog: «Notwehr-Demos unterm Halbmond».
Der Kommentar beginnt so:

Das folgende Poem habe ich im September 2006 geschrieben und “Das neue Asyl- & Ausländergesetz, fortgedacht” tituliert; hier und jetzt heisst es:

“Die Anti-Minarett-Initiative, fortgedacht”.

Schlagt die Moslems in die Knie
Dass ihnen die Beine wegknicken
Soll weich werden in der Beugehaft
Soll Anstand lernen, das Pack
Verbietet den Moslems das Beten & Dudeln…

usw. (Blog vom 30.11.09)

Nun, das ist – für meine Ansprüche – gut genug als ins sarkastisch Abdrivende gekennzeichnet und als schon fast höhnische Übertreibung erkennbar, auch ohne Giftschein oder Hinweis: Achtung Sarkasmus!

Der Kommentar ist substantiell nicht mein Ding, wie man so schön sagt, is ein bisschen dicke, aber ich bin ein Scheißliberaler, und wenn jemand zu meinen Blogs etwas zu vermelden hat, sei er herzlich eingeladen, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Die Texte sprechen für sich selber. Aber offensichtlich nicht.
Könnte es sein, dass hier Gutmenschen überfordert sind?
Mir schwante dann, dass man den ganzen Blog vielleicht nicht richtig verstünde? Vielleicht sogar alle Blogs? Vielleicht überhaupt mein gesamtes, schmales Werk, meine Person, mein Leben und Wirken???

Denn um Ironie inhalieren und genießen zu können, braucht es ein Minimum an Sach-Kenntnis; die Fähigkeit – inklusive des unbedingten Willens – zu lesen, bevor man gleich E-Mails mit Rassismus-Vorwurf in die Tasten töggelt.
Und wenn ich schreibe: «…der sanftmütige und grundgütige Revolutionär Ghaddafi…» oder das nun » …in allen muslimischen Ländern christliche und jüdische Gotteshäuser nicht nur gebaut, sondern auch erwünscht sind; der feinsinnige Kunstfreund aus dem Iran, Herr «ich will doch nur Israel vernichten»-Ahmadinejad sein Atomprogramm das Klo runterspült, die Todestrakts mit den politischen Oppositionellen öffnet, jetzt wo die Beschneidung der Frauen ab sofort eingestellt und die Burka in europäischen Städten abgelegt wird…» , nun, wenn ich das tue, dann tue ich dies in der Absicht meine Ansicht kundzutun und einen Sachverhalt darzustellen, wo jede/r sofort weiß: Aha, das stimmt so nicht. Obacht Ironie! Der Herr Autor zwickt mich in die Nase und zieht daran.

Aber warum sagt er’s denn nicht einfach geradeheraus, und zeigt uns, wo ihn der Schuh drückt? Und wieso nimmt er den Umweg über die Ironie?
Das ist eine gute Frage.
Über die werde ich noch ein wenig nachdenken müssen, liebe «Blick»-Leser. Ganz unironisch.

«So selbstlos bin ich nicht»

Ich möchte der Lyrikerin Friederike Mayröcker ausdrücklich NICHT zu ihrem 85. Geburtstag gratulieren.
So selbstlos bin ich nicht.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/
2004/1016/seite3/0057/index.html

Wer davon spricht seine «Leser» zu erziehen, und wer Handlung in einem Buch für verwerflich hält (und für eine so leichte Sache, dass sie des dichtenden Menschen unwürdig ist), mit gefühlten 627 der wichtigsten österreichischen Literaturpreise beworfen wurde, verdient meinen uneingeschränkten, maßlosen, gefräßigen, blitzgeblank gewienerten und bösartigsten Neid.

Sunday moaning comin› down – Poetry

Benedikt Maria Kramer (*1979) lebt und arbeitet in Augsburg als
Steinmetz auf dem Friedhof, und als Autor am Schreibtisch. Einige seiner Gedichte wurden von der
Band Rabenbad, deren Sänger er war, vertont.

Wir sterben aus

Wir sind die besten Autofahrer
Wir können nicht mit Geld umgehn
Wir hassen Fernsehn
Wir hassen Sonntage

Wir gehen nie einkaufen
Wir gehen nicht wählen
Wir gehen ständig fremd
Wie stinken nach Schweiß und Alkohol

Wir sind dauernd betrunken
Wir schlafen in unseren Hosen
Wir schlafen auf dem Bauch
Wir pinkeln im Stehen

Wir sitzen im Knast
Wir reiben uns den Schwanz
Wir lieben willige Fraun
und wir haben furchtbare Angst

Wir lieben unsre Mütter
Wir hassen unsre Väter
Wir entsorgen euren Müll
Wir bauen euer Haus – Wir begraben euch

Wir ficken eure Töchter
Wir sind Teufel
Wir sind Götter
Wir sterben für niemanden

Wir sterben aus

Ich bin wertekonservativ! (Eine fröhliche, vorweihnachtliche Tautologie)

Manchmal denke ich an Christoph Schlingensief.
Wie mag es ihm gehen, frage ich mich? Man hört so verdächtig nichts. Gestern habe ich wieder was gehört. Er war im Wiener Akademietheater zugegen. Ich sah in der TV einen Ausschnitt seiner Show. Er ist mit seinem Buch unterwegs. Er hielt es hoch und sagte: «Das ist unwichtig.», und dann legte er es wieder auf den Tisch. Er möchte lieber erzählen.

Er redete über seine kraus und «afrikanisch» gewordenen Haare, die Metastasen in seinem verbliebenen Lungenflügel, wie die auf dem Röntgenschirm aussahen und auf wundersame Weise wieder verschwanden. Er redete. Er redete. Er redete. Very gutgelaunt.
Ab und an hörte man semi-schüchternes Gekicher aus dem Publikum. Als wüsste es nicht so recht, ob es sich denn ziemt, beim Vortrag eines Todkranken überhaupt zu lachen.

Schlingensief ist nun ganz das, was er schon immer war: Ein Prediger.
Ich kenne Prediger aus meiner frühesten Jugend. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Schliengensiefs Mumm, mit Aktionen seine körperliche Unverehrtheit zu riskieren, verdient meine Anerkennung. Aber grundsätzlich traue ich keinem, der die Laube immer offen hat.

Dann sagte er: «Ich bin wertekonservativ!»
Gut. Das bin ich auch. Fast jeder, der die 40 übersteht, wird wertekonservativ. In jungen Jahren lehnt man mal alle überlieferten Werte ab, und überprüft jeden einzelnen von ihnen auf seine Tauglichkeit. Einige überleben die Prüfung, die anderen landen auf dem Müll. Das ist der Weg des Kriegers. Und der kann dauern.

Aber dann kam es. Er erzählte er uns in dürren Worten, was ihn trotzdem von der FDP trennt. Er nannte allen Ernstes die «FDP» als Beispiel für Wertkonservatismus!
Er sagte nicht Karel Woytila, Jörg Fauser, Henryk Broder, Mutter Theresa, Sibylle Berg, Charles Bukowski, nein, er sagte gut vernehmlich: «FDP».

Aber wir sind ja Deppen. Wir merken doch sowas nicht. Wir sind dämlich und dümmlich, dirrilich und düttelsaustrunzaberderhaldenbüttensepplblöd.
Die FDP? Ja, welche denn? Die des springenden Antisemitchens Möllemann? Hamm-Brücher? Genscher oder gar «Hier sprechen wir deutsch» Westerwelle?

Er hält uns für Idioten. Oder doch nur mich persönlich? Obschon wir uns überhaupt nicht kennen.
«Ich bin linksliberal, aber trotzdem unterscheide ich mich, wenn auch nur ein wenig, von Benedikt XVl.», sage ich, und füge diesen genialen Satz hinzu, das ewig währende, nie verglimmende Novum der katholischen Jazzmessen: «Jesus war der erste Sozialist!»
Ich meine, damit war, ist, und wird in Hinkuft alles gesagt sein.

Nun, wir wissen es: Die letzten Meter sind katholisch. Rimbaud ließ sich auf dem Sterbebett taufen, und auch Heine ließ den Priester rufen.
Ich fürchte, mir wird’s nicht anders ergehen. Aber zu Lebzeiten sollten wir unser Bestes geben. In Wort und Tat. Das ist ein Wert. Möglicherweise teilt den sogar Westerwelle.
Wertkonservativ ist eine Tautologie.
Denkt darüber nach, bevor es euch erwischt!
(Das ist auch eine Predigt. So sind wir eben…)

Wie ich das Bild von Wien verfälsche, und trotzdem Gutes tue

Wenn ich einkaufen gehe, tue ich es fast ausschließlich in meinem Grätzel. Aber um in mein Geisteszentrum zu gelangen muss ich gute 10 Minuten Richtung Nordwesten schlapfern, und will ich auf die Post, sind’s 10 Minuten Richtung Nordosten. Meistens vagabundiere ich zuerst zur Post, schlage einen Haken und gelange so ins Geisteszentrum, wo ich Gewichte stemme und über meine Existenz und die der anderen, nachdenke.

Argentinierstraße: beliebter Wechsel semi-verirrter Touris
Argentinierstraße: beliebter Wechsel semi-verirrter Touris

Wenn ich mein Grätzel verlasse, werde ich auf der Straße angesprochen. Zu etwa 90%. Meist auf der Höhe des Benya-Parks. Denn die Argentinierstraße ist ein beliebter Wechsel für Semi-verirrte Touristen. Die wollen – man weiß nicht genau warum – zum Schloss Belvedere. Gestern (noch ein paar Tage vor der Jagdsaison, denn die beginnt erst mit den Weihnachtsferien), wurde ich nur nach dem Verbleib der Arbeiterkammer gefragt. Von einer Frau. Das war kurz bevor ich von einer anderen Frau vom Postschalter weggerempelt wurde wie ein Stürmer von einem Eishockeyverteidiger. Die furiose Lady schmetterte den wunderbaren Doblerschen Gedichtband in der Luftkissenversandtasche, zu Boden. Das war ihr Recht, denn sie war der Meinung, ich hätte mich vorgedrängelt. Sie hätte auch sonst Recht gehabt, denn in Wien haben alle recht, die sich zu kurz gekommen fühlen.
Eine denkwürdige Situation. In meiner alten Heimat so unvorstellbar, wie die Abschaffung der Demokratie. Aber was soll’s, so sind die hier. Man muss sie irgendwie ertragen, und ihnen hin und wieder sagen, dass sie auch irgendwie zur Zivilisation gehören. Obschon…
Es gibt ein paar Dinge, die ich unter keinen Umständen tun würde, naja, ausgenommen nach angedrohter Gewalt gegen meine Kinder, und eines dieser Dinge, heißt «Vordrängeln». Da würde ich mich schämen.

Einige Minuten später, wurde ich wieder von einer Frau angesprochen, sie hatte eine lange, brennende Zigarette in der Hand, und wollte von mir wissen, wo sich denn die bescheidene Hütte der SVA (Sozialversicherungsanstalt) befünde? Wusste ich natürlich. Ich weiß fast alles. Immer freundlich, immer bemüht, immer lächelnd, so kennen mich die Verirrten, die Ortsunkundigen und die Damenwelt der Bezirke. Und wenn’s Touristen sind, dann ist es mir ein inneres Bedürfnis ihnen den Weg zum Belvedere in ihrer Landessprache zu erklären: Sempre indiritto, ca. cento metri, e poi a sinsitra, fino …usw. Oder, wenn mir der schlecht verhohlene französische Accent in den zerkauten englischen Brocken auffällt: Maintenant tousdroit, pas plus de cent metres, etpuis a gauche jusque à… In Kastilisch, in Englisch, in Schwyzertütsch bewandert; so kennt man den gütigen Mann von der Argentinierstraße.

Einmal tapperte eine bekopftuchte Lady in den Fitnessladen in dem ich als Trainer arbeitete. Sie redete mich mit einer Selbstverständlichkeit in Französisch an, dass man glauben könnte, wir wären in Tunis oder Paris und nicht im 9. Wiener Bezirk. Pas des Problemes. Machen Sie mal auf Deutsch in Tunis oder Paris…

Und all diese Menschen, die diesen äußerst netten und liebenswürdigen Guide in Wien angetroffen haben, fahren wieder zurück in ihre Heimatländer und werden dort gefragt, wie’s denn war in Wien und wie sie denn sprachlich zurecht gekommen seien? Kein Problem, werden die dann sagen: Die reden da französisch und italienisch und spanisch und englisch und schwyzertütsch. Erstaunlich, werden die Daheimgebliebenen antworten, dann stimmt es also nicht, was man gemeinhin von den Wienern sagt: Einer der viele Sprachen spricht, nennt man Multilingual, einer der zwei Sprachen spricht bilingual und einer, der nur eine Sprache spricht: Wiener.
Keine Spur, werden die begeisterten Rückkehrer holleien, nicht die Bohne! Alles sauber. Und so freundliche Menschen. Es ist kaum zu glauben. Da sieht man es wieder: Alles nur blöde Klischees, von wegen muffigen, grantigen und hinterhältigen Wienern. Märchen!

Das war die Geschichte, wie ich manchmal das Bild von Wien verfälsche und trotzdem Gutes tue und das Bruttosozialprodukt dieser Stadt nicht unmaßgeblich beeinflusse. Denn ein zufriedener Tourist ist ein Wiederkommer. Sagt mir eigentlich jemand danke dafür?