Alte Männer mit Büchern

Ich sitze auf dem Fahrradergometer, absolviere ein HIIT-Programm und lese John Fantes „Voll im Leben“. Der kleine Roman lag mehr als ein Jahr im Regal am Kopfende meines Bettes. Nun hat er es endlich auf’s Rad geschafft. Natürlich ist er großartig, der Roman. Es ist ein Fante. Ich habe keine Ahnung, warum ich ihn so lange verschmäht habe. Irgendwas passte nicht. Ich nahm ihn zur Hand und las ein wenig darin herum, aber der Funke sprang nicht. Jetzt bin ich so ziemlich begeistert und erkenne den großen Schrifsteller wieder, der Fante war. Warum nicht schon vorher?
Ja. Noch immer ist so einiges rätselhaft. Soll so bleiben.

Was mir auffällt: Die alten Männer auf den Ergometern haben immer öfter Bücher vor sich. Lange Jahre war ich der einzige Kerl, der noch in richtigen Büchern aus richtigem Papier las. Ich bin halt ein verdammter Trendsetter.
Jetzt höre ich Van Morrisons „Tore down à la Rimbaud“. Yeah, abgerissen wie Rimbaud. Kommt mir auch bekannt vor.
Aber was hat das mit Fante, Ergometern, alten Männern, Büchern und mit mir zu tun?
Vermutlich so einiges.

Besuch in Dachau

Vor fast dreißig Jahren war ich zusammen mit meinem Freund Franz Dobler im KZ Dachau. Wir sind mit dem Rad hingefahren, da die KZ-Gedenkstätte nicht weit vom Hof der Schwiegereltern von Franz liegt. Die Sonne schien. Es war warm. Sommer.
In der Gedenkstätte war kein Mensch. Es war irgendein Wochentag. Am Nachmittag. Ich erinnere mich an das Knirschen des Kies, als wir über den riesigen Platz gingen, auf dem die Gefangenenbaracken gestanden hatten. Es war alles sehr sauber. Keine Zigarettenstummel. Keine Papierfetzchen. Kein weggeworfenes Einwickelpapier. Ich habe nie wieder einen solch saubern Kiesplatz gesehen.

Die Baracken waren nicht mehr da. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte man ihre Umrisse mit Steinen nachgelegt. Kies und diese Steine. Es gab auch eine Menge Stacheldraht und sonstigen Draht. Wachtürme, die sehr neu aussahen, frisch gestrichen. Ordentliche Ziegel. Ich erinnere mich an den Bunkerbau, den Keller, wo sich Zellen befanden. Man konnte die Eisengitter anfassen. Es waren diesselben Eisenstäbe, um die auch die Unglücklichen ihre Finger gelegt hatten. Die Beklemmung, die da in mir aufstieg, war vermutlich diesselbe, die ich auchauf einem Besuch in Alcatraz empfunden hätte. Ich hatte etwas besonderes erwartet. Eine besondere Ergriffenheit. Abscheu. Trauer. Wut. Ich wollte etwas besonderes empfinden, aber ich empfand es nicht.
Später dachte ich, es wäre vielleicht besser gewesen, man hätte die Dächer der Wachtürme nicht neu eingedeckt, und die Wände nicht verputzt und frisch gestrichen. Und man hätte die Baracken nicht abgerissen, sondern sie einfach, so wie sie waren stehen und verfallen lassen. Aber das hätte einfach nicht ordentlich ausgesehen, oder? So, wie es jetzt war, war es beinahe nichts, und der Platz mit seinem hell in der Sonne schimmernden Kies sah aus wie ein riesiger, japanischer Zengarten.
Mein Freund weinte. Ich nicht.
Das ist vielleicht das Problem mit diesen Gedenkstätten: Man sieht etwas. Aber es ist nichts besonderes. Es ist ein wenig so, wie wenn man eine alte Burg besucht und in das Verließ starrt, das für die Touristen frisch ausgemalt wurde. Die Sonne scheint und es ist still, bis auf die Vögel und die Autos die irgendwo herumfahren. Man liest die Inschriften und sieht sich Fotos an. Eine leichte Sommerbrise.

Was die Imagination da zu leisten hat, um auch nur einen Hauch des Gräuels nachzuempfinden, ist vielleicht einfach nicht leistbar. War es in diesem Fall auch für mich nicht. Und ist es schon gar nicht für jene, die Panik kriegen, wenn der Akku des Phones nur noch bei 25 % ist.
Reicht dann halt gerade noch für ein paar Selfies.
Das ist nicht nur deren Schuld…

Sucht (und Idiotie)

Sucht? Warum Sucht? Weiß nicht. Ist einfach ein gutes Thema, es begleitet mich schon sehr lange und wird noch lange bei mir bleiben. Das Thema.
Neulich sah ich eine Doku über den Club 27, also jene Musiker, die sich mit 27 über den Jordan gehievte hatten. Unter zuhilfenahme diverser Substanzen, die mir nicht unbekannt sind.

Aufgemerkt habe ich aber vor allem bei einer Meldung von Kurt Cobain, der mich wissen ließ, dass „Heroin nehmen so langweilig ist.“
Das ist eine Erkenntnis von Bedeutung. Sie ist wahr. Alles wird – um mit Rainhard Fendrich zu sprechen – mit der Zeit a bisserl öd. Das Problem bei vielen Substanzen ist nur, dass diesen die Einstellung zu ihnen egal ist. Sie machen die User süchtig. Und so hämmert man sich den Stoff weiter rein. Es ist öd, und es muss doch sein. Das ist fuckin’ traurig. So traurig, wie Kurt Cobain es war.

Dann sah ich eine Doku über Medikamentensucht. Sie führte uns eine Reihe von Idioten vor, die sich Schlafmittel und Benzodiazepine einpfiffen und nicht merkten, dass sie vielleicht ein Suchtproblem haben, wenn sie die Dosis verzehnfachen müssen, um noch Wirkung zu erzielen. Können die nicht lesen? Es gibt Beipackzettel. Und im Netz findet sich ein ganzer Schwung an Information. Jeder der sich den Opiaten widmet, weiß, dass sie süchtig machen können. Aber wer das Valium, das ihm der Doc verschrieben hat, eimerweise einwirft, der wird nicht von Zweifel angekränkelt?

Das ist Idiotie.
Immer wieder mal eine Pause einlegen. That’s my advice …

Hunde

In meinem bisherigen Leben bin ich drei oder vier mal von Hunden gebissen worden. Pas grave, aber doch gebissen. Hand und zweimal Wade. Auch Pferde haben mich schon gebissen. Versucht zu beißen, besser gesagt, sich aber dann einen harten Uppercut eingefangen. (Jetzt, PETA’s, subito shitstormen!)

In letzter Zeit bemerke ich, dass Hunde wieder intensiver auf mich reagieren. Keine Ahnung warum. Im Lokal kläfft mich der Hund eines Freundes an, und einen Tag darauf, auf einer Wanderung, die man da wo ich her komme, einfach als „go laufe“ bezeichnen würde, gab es weitere Hundeerlebnisse.

Ein Husky, im Besitz von Luschen an denen ich vorbeiziehe folgt mir. Ich höre hinter mir seine Krallen auf den Steinen. Sie rufen ihn. Natürlich – es sind Luschis – gehorcht er nicht und bleibt mir buchstäblich auf den Fersen. Als er dann zu bellen anfängt, drehe ich mich kurz um und schreie ihn an: „Hey!“ Darufhin verzieht er sich zu den Luschis.

Zweihundert Meter weiter kommt schon der nächste an, kläfft, geht im weiten Bogen um mich herum, um in meinen Rücken zu kommen. Belässt es dann aber dabei.

Eine Weile später steuert ein großer Bergasmasker direkt auf mich zu. Pfeilgerade. Ich geh einfach meines Wegs und wir prallen gegeneinander. Sein Frauchen, ein Hippie, kommt später an, und sagt: „Er wollte nur gestreichelt werden.»

Kann sein. Ist mir aber wurscht.

Dann verirre mich in eine Siedlung voller Villen und Zäune und erlebe eine Dominosteinnummer: Hunde, die nacheinander an die Gartentore rennen um mich zu verbellen. That was nice.

Im Zug liegt eine Töle mitten im Gang und steht dann auf, um mich anzustarren, bis die Besitzer etwas unruhig werden. Dann steigen sie aus.

Und etwas später, ich auch.

Strange, irgendwie. Das ist es: I’m a stranger! Die Köter wissen es.

Das Sprüchemuseum (122)

«Wenn er das selber so sieht, wird wohl ein Funken Wahrheit darin begraben liegen.»

Posting im „Standard“ zu Ricky Gervais Rede bei der Golden Globe Verleihung.

Wir sagen: Recht so. Denn wer im Glashaus sitzt, sollte keine Ponys lecken.

10’000 Schritte

Sich über unsinnige Dinge Gedanken zu machen, könnte mein Hobby in dieser unsinnigen Zeit werden.
Zum Beispiel über die empfohlenen 10’000 Schritte täglich. Was für ein Quatsch! 10’000 Schritte sind etwa 7,5 Kilometer. Wo werden die absolviert? In der Küche? Im Büro? Vom Schreibtisch zum Klo und zurück. 7,5 Km, das sind an die 2 Stunden reine Gehzeit. 10’000 Schritte erreiche ich als amtlich bekannter Fußgänger nur an Ausnahmetagen. Wobei natürlich meine tägliches Ergometerradeln nicht eingepreist ist. Das wären dann schon mal gut 6’000 Schritte. Zum Gym sind es 1,1 Kilometer. Macht 2,2 insgesamt. Dann noch ein bisschen Einkauflatschen dann komm ich so ungefähr auf 3000 Schritte.

Wo sind eigentlich all diese zehntausend Schritte Geher? Auf der Straße kann ich sie nirgends entdecken. Und um von der Haustür zur U-Bahn-Tram-Bushaltestelle zu kommen, das bringt, wenn man großzügig rechnet vielleicht 800 Schritte. Täglich 12 mal zum Bus pilgern? Warum nicht? Man hat ja sonst nchts zu tun.

Und dann das Treppensteigen. Soll man ja auch.
Dazu ein kleiner Text aus „Blumberg2“ :

«Das Treppenhaus war so breit, wie ein Treppenhaus nur breit sein konnte, es war das breiteste Treppenhaus, das Isa Blumberg je betreten hatte, und deswegen nahm sie nie den Lift, obschon sich die Praxis von Dr. Lasker-Meir im fünften Stock befand. So ein tolles Treppenhaus, dachte sie jedes Mal, wenn sie nach oben ging. Die Stufen waren die angenehmsten, elegantesten und wohlproportioniertesten, auf die sie je ihre Füße gesetzt hatte. Und trotzdem war sie hier noch nie einem Menschen begegnet. Nicht einmal einem, der nach unten unterwegs war. Das mochte an den beiden geräumigen Liften liegen, die ziemlich fix zu sein schienen. An denen, und an der allgemeinen Bequemlichkeit. Vielleicht auch daran, dass seit einiger Zeit alles zum Porno gewendet wurde. Age of Porn. Die Gesundheitsratgeber verkündeten täglich, wie nötig es war, sich mehr zu bewegen. Und so wie man sich Kochsendungen mit Foodporn-Aufnahmen ansah und dann die Fertiglasagne in die Mikrowelle schob, so machten einen die Gesundheitsratgeber scharf aufs Treppensteigen, aber wenns dann tatsächlich so weit war und man den Mühen live ansichtig wurde, stieg man doch lieber in den Fahrstuhl. Wie es sich mit Sex verhielt, darüber wollte sie nicht nachdenken. Nicht in diesem schönen Treppenhaus. «

Das Glück

Das Glück der falschen Fährten

(von Helmuth Schönauer)

Die Kunst dient meist dazu, eine Epoche solitär in der Geschichte zu verankern oder ein Stück Zeitgeschichte unvergesslich zu machen. So werden oft Bildikonen, Popsongs oder Filmsequenzen dafür verwendet, um beispielsweise die 1960er oder ähnliche Großvater-Dekaden für die Nachfahren aufzubereiten.
Andreas Niedermann greift auf Ikonen-Zitate vergangener Zeiten zurück, aber in seiner Novelle „Das Glück der falschen Fährten“ geht es um das Verlöschen der Erinnerung, das Einschlummern der ehemals wilden Helden in der Gegenwart, und um das Verfolgen von zwei Erzähl-Tracks, die sich gegenseitig auslöschen.
Der Ich-Erzähler erlebt die Gegenwart als Déjà vu eines Bullshits vor zwanzig Jahren. „ „Ich ließ diese Leere auf mich wirken, blickte über den Schirm hinweg in den Hof, direkt auf den großen Abfallcontainer, und fragte mich, ob der auch schon vor zwanzig Jahren hier gestanden hatte. Das waren die wirklich interessanten Fragen. Bullshit! 20 Jahre. Bullshit!““ (41) Der Bullshit ist dabei jene kulturelle Kraft, die einst Hemingway zum Schreiben gebracht hat und die nach wie vor als die Zündschnur für jede literarische Explosion gilt.
Der Erzähler ist also ab und zu in der Gegenwart eines aktuellen Wiens und geht dabei jene Wege ab, die er vor zwanzig Jahren schon gegangen ist. Sein Leben steckt immer noch in der Endlosschleife, statt der Frau, die er einst verlassen hat, weil sie sein Schreiben nicht mehr ausgehalten hat, sitzt jetzt eine Phantomkünstlerin in der Wohnung. Sie hält sich geheimnisvoll die meiste Zeit hinter einem Paravent verborgen und badet dabei, sodass es den Helden vor vagen Lustvorstellungen ins Freie treibt. Links geht es zum Getränk, rechts in den Park, beides kann befreiend wirken.
Diese stumme Künstlerin nennt sich Lucinda und stammt aus Louisiana, sie ist begnadete Sängerin und muss sich die Stimme in Wien sanieren lassen. Alles, was sich über sie erfahren lässt, resultiert aus verfilmten Sehnsüchten und Videoclips. Da Lucinda nichts sagt, liegt bei ihr jeder richtig, was immer er sich auch vorstellt. Ihre Anwesenheit ist letztlich so selbstverständlich wie der gesamte Lebenslauf des Erzählers. Mal ist dieser Musiker, Kunstsammler oder Barkeeper. Er bezeichnet sich auch immer wieder als Verleger und Schreiber, und beide stehen sich im Weg!
In dieser Gegenwart poppen ständig Kultfiguren aus der Zeit vor zwanzig Jahren auf. Wer kennt noch Helmut Schödel, einen begnadeten Journalisten, der als einziger über Michael Brodsky geschrieben hat? Warum dreht sich plötzlich alles um Townes van Zandt, den Erfinder des Alternativ Country? Und plötzlich ist auch Wolf Wondratschek mitten im Raum und produziert „Menschen, Orte, Fäuste.“
Alle diese Kunstwerke sind verblasst und stehen herum als fahle Schemen der Vergangenheit, die hinter den Figuren der Gegenwart hervor schäumen. „ „Aber nun standen andere an der Kasse. Die Verlierer waren alle tot. Und die, die an ihrer Stelle an der Kasse anstanden, die alt gewordenen Kinder der toten Verlierer, kramten genauso in ihren Börsen herum, aber sie waren nicht gebeugt und sie waren nicht knöchern dünn und schweigsam, sondern übergewichtig, träge und geschwätzig. Mir waren die armen, alten Verlierer lieber gewesen.““ (59)
Ein Leben lang geht es beim Schreiben ums Schreiben, sodass man mit der Zeit die einzelnen Schreiblagen nicht mehr auseinanderhalten kann. Der Erzähler soll als Niedermann einen Vortrag halten, einzige Bedingung, dieser soll 45 min lang sein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Held einen Vortrag mit dieser Länge gehalten, aber der Inhalt ist verloren gegangen, vielleicht waren die zitierten Personen von damals jene von heute.
Ständig setzen absurde Träume ein, die zeitlos überall hinpassen und oft erst gegen Mittag als solche erkannt werden. Das lange verschollene Manuskript von Hunter Thompsons „Rum Diary“ taucht auf und wird publiziert, man könnte es als Vorlage für die eigene Schreibweise verwenden, zumal im Rum Diary immer die Gegenwart leicht schräg in die Vergangenheit verschoben ist.
Bald lassen sich keine Sätze mehr in der Jetztzeit sagen, ohne dass nicht ein Film aus der Vergangenheit anliefe. „Wie geht es Ihrer Throat?“ (73) , will er die stumme Lucinda fragen, aber sie antwortet nicht, während bei ihm ein erotischer Pionierfilm anläuft, Deep Throat.
Wenn als Verleger nichts weitergeht, helfen oft Fitness-Übungen, die aus der Zeit an der Uni übrig geblieben sind, wo der Held in der Hauptsache geboxt und weniger studiert hat. Die ständige Anwesenheit der Künstlerin macht einen gewissen Druck (123), sodass sich die Gedanken zu unbrauchbaren Gebilden verformen.
Endlich findet der Vortrag in Bern statt. Schon während des Releases geht das Thema verloren, und auch der Referent zieht sich gleich darauf in die Berge zurück und gilt als verschollen. „ „Es dauerte nicht lange, da hatte ich nicht nur meine Familie in Irland vergessen, sondern auch Lucinda und die ganze Träumerei, die Schmach und die falschen Fährten, auf denen ich mich herumgetrieben hatte.““ (136) Später ist die Wohnung leer wie immer. Lucinda hat eine CD hinterlassen, er schiebt sie wo hinein und es geht ab ins nächste Kunstwerk.
Die wahre Kunst besteht darin, dass sich alles in der Zeit verliert. – Asketisch grandios! 

Andreas Niedermann: Das Glück der falschen Fährten. Novelle.
Zirl: Edition BAES 2019. 139 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-9504833-1-4.
Andreas Niedermann, geb. 1956 in Basel, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer