Mein Leser, Frau Jelinek und ich

Ich habe einen Leser. Manchmal begegnen wir uns zufällig auf der Straße. «Wieder was Neues in Arbeit?», fragt er dann, und ich sage ihm, was momentan gerade so anliegt. Wenn es was Neues gibt erwirbt er das Buch, und sagt mir später, dass er es gelesen hat. Ich glaube, er glaubt, dass er mein einziger Leser ist. Knapp daneben.

Heute sagte er etwas über Elfriede Jelinek, von der gerade ein neues Stück in München uraufgeführt wird, «in Deutschland!» wie mein Leser lautstark bemerkte. Und dass sie wieder einen Haufen Preise erhalten habe und so weiter. Es ist nicht schwer zu erraten, er mag Elfriede Jelinek nicht. Ich hingegen habe einiges für sie übrig. Obschon ich ihre Bücher nicht lese. Nur mal so ein bisschen. Aber ich bin froh, irgendwie, dass es sie gibt. Das neue Stück geht (auch) um ihre Jugend, die ein Horror war. Aber ein richtiger. Ich stelle mir vor, wie es für sie war, und es ist richtig schlimm. Meine Jugend war überhaupt kein Horror. «Deswegen hat sie den Nobelpreis gekriegt, und du nicht», sagt Henk dann immer. Aber ich, und auch Frau Jelinek, wissen, was wichtiger ist.

Mein Leser wollte richtig vom Leder ziehen, aber ich ließ ihn nicht. Er sagte dann: «Da les ich doch lieber ihre Bücher.»

Interessant ist, dass ich manchmal ganz ähnlich Dinge bermerke und so heftig beschreibe wie meine Kollegin. Aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Es geht nicht um den Inhalt, sondern um die Form. Wenn Frau Jelinek und ich völlig idente Texte schrieben, dann würden sich viele über ihren erzürnen, während sie mir vielleicht auf die Schulter klopfen würden. «Passt!», würden sie sagen.

Aber das hat mir schon mal ein ehemaliger Freund verraten: «Solange du hier unbekannt und arm bist, kannst du dir alles erlauben. Aber dann trachten sie nur noch danach, dich fertig zu machen.»