Der langsamste Mann der Stadt

Auf meinen allmorgendlichen Gängen ins Geisteszentrum begegne ich ihm jedes Mal. Entweder er verlässt gerade das Haus in der Favoritenschlucht oder er ergeht sich in der Rainergasse. Mann, der ist fertig! Rekonvaleszent, würd ich sagen. Er wirkt gläsern, durchscheinend, zerbrechlich. Schätze mal, er ist in meinem Alter, nur älter. Er geht an Krücken. Gehen, ist ein Euphemismus. Er kriecht beinahe unmerklich auf zwei Beinen. Er raucht Zigaretten. Er wirkt, als wäre er mutterseelenallein. Man sieht ihm an, dass er Angst hat.
Vermutlich hat er Angst vor dem was kommt. Oder ist. Und war. Ich habe noch nie einen Mann so langsam gehen sehen.

Gestern machte er sich auf die lange Reise, die Favoritenschlucht zu queren. Der Verkehr staute sich in drei Richtungen. Er brauchte mehrere Grünphasen. Seine Schritte sind so klein, dass das menschliche Auge sie kaum wahrnehmen kann. Er hebt die Füße nicht an. Es wirkt, als überstiege dies seine Kräfte.

Ich blieb stehen und überlegte, wie ich ihm helfen könnte. Ich fand keine Lösung. Nun ja, ich hätte ihn tragen können. Aber das wär ihm vermutlich nicht recht gewesen. Mir auch nicht. Ihn am Arm packen und rüber geleiten, machte auch keinen Sinn. Vielleicht wäre ich noch über seinen Krücken gestolpert.

Es war etwas heroisches in diesen Querung. Ein Mann und die Favoritenstrasse. Meine Güte, es dauerte und dauerte. Es war so um 8 Uhr früh. Alle hatten es eilig.
Und niemand hupte!Gott verdamme mich wenn es gelogen ist: Keiner hupte! Und für einmal war es in Wien wie in der Schweiz. Schwer zu glauben.
Sonst läuft’s doch so wie einst: Ein Rollstuhlfahrer rollt in der Orangephase in den Fahrweg. Ein Bus der Wiener Verkehrslinien muss bremsen.
Daraufhin der Busfahrer, für fast alle vernehmbar: «Wos is, Oida? Host no nid gnua?»