Das Arschloch und der Dichter

(Vor zwanzig Jahren starb der Dichter Peter Morger.)

„Es gibt keine Illusion, die ich nicht hatte.“
Peter Morger

«Von Peter Morger wusste ich nicht viel, nur dass er einen Roman geschrieben hatte, den ich nicht kannte, aber der gute Kritiken bekommen hatte. Zu jener Zeit oder vielleicht auch später arbeitete er in der Psychiatrischen Klinik Herisau, in der sein Vorbild Robert Walser seine letzten Jahre verbracht hatte.

Er redete, so schien es mir zumindest, fast immer von Robert Walser, er nannte ihn «Vorbild und Mahner», wobei ich nie fragte, was denn die «Mahnung» sei, denn ich dachte einfach, dass er damit die Mahnung vor dem Gefängnis im eigenen Kopf meinte, diese Art von Einsamkeit, die ein vielleicht hypersensibler Mensch erfährt. Und Morger erschien mir sehr zart, nicht nur rein physisch. Er schien verletzlich und introvertiert, und mich störte sein «Walser-Fimmel». 

Robert Walser war ein Säulenheiliger, vor dem jeder und jede kniete, der etwas von «guter Literatur» verstand. Ich konnte das Talent und die Magie seiner Prosa erkennen, aber sie berührte mich nicht.

Dass man das Talent und die Könnerschaft eines Künstlers anerkennen, ihm aber trotzdem nicht folgen mag, ist für viele Apologeten schwer zu schlucken. Dabei ist es einfach: Wir sind verschieden. Oft auch, ohne Ignoranten zu sein.

Die Art von Morger und seine jüngerhafte Verehrung für Robert Walser provozierten mich. Morger gehörte zu jenen Menschen, die meine hässlichen Seiten stärker machen, so wie das Winseln und Flehen eines Opfers noch mehr Gewalt und Brutalität in einem Peiniger hervorrufen. So verhielt ich mich ihm gegenüber, bei unseren wenigen Begegnungen, ziemlich rüpelhaft und grob. Das hatte er nicht verdient, aber das kümmerte mich nicht.

Eines Nachts im Winter kam es zu einer bizarren Aktion.
Ich bewohnte vorübergehend mit meinem Kumpel Gurkentiger eine lange schlauchartige Wohnung, die mit einem Holzofen beheizt werden musste. Wir hatten getrunken, aber nicht genug (es ist doch nie genug, oder?), also besorgten wir noch mehr Bier und gingen nach Hause. Peter Morger, den wir unterwegs angetroffen hatten, kam mit uns. 

Wir heizten den Holzofen ein, tranken Bier, redeten über Literatur und Walser, und irgendwann holte ich den Stapel Gedichte heraus, der jeden Umzug überlebt hatte. Ich setzte mich gegenüber von Morger an den Tisch und begann mit der Aktion. Gurkentiger hockte neben dem Ofen, die Hand an der Klappe. Wir hatten die Sache nicht abgesprochen, sie lief wie von selber, als sei der Vorgang selbstverständlich und folgerichtig.

Dann las ich das erste Gedicht. Als ich fertig war, überreichte ich es Gurkentiger. Er öffnete feierlich die Ofenklappe, knüllte das Blatt etwas, damit es durch die Öffnung passte, und übergab es den Flammen. 

Die Gedichte waren Unikate. Keine Durchschläge.

Und so verfuhren wir bis zum letzten Blatt. 

Hatte ich ein Gedicht gelesen und es Gurkentiger überreicht, der es mit sardonischem Lächeln den Flammen überantwortete, sprang Morger auf und rief: «Nein! Nein!»

Ich sah ihm an, dass es ihm zusetzte, dass ich meine Gedichte vernichtete. Dass sie unwiederbringlich verloren waren. Und dass es ihm zusetzte, ließ mich irgendwie heroisch fühlen. Sein Protest, so denke ich, galt dem Autodafé und war nicht der Güte der Gedichte geschuldet. 

Ich tat etwas Unerhörtes, Schmerzliches, Verbrecherisches. Ich demütigte ihn damit. 

Ich war ein großspuriges Riesenarschloch.

Aber das war ja allgemein bekannt.“

(Aus „Schreiben – Selbstbild mit Tier“ Songdog Verlag, 2022)