Matthyas Jenny (1945 – 2021)

Kein Nachruf.
Meine erste Begegnung mit Matthyas Jenny, 1980.

Aus: „Schreiben, Selbstbild mit Tier»

Matthyas Jenny war nicht groß und auch nicht klein, aber er wirkte kompakt und stark, und man glaubte ihm all die Geschichten von Prügeleien in Gefängnissen und auf den Trips nach Fernost und USA, über die er geschrieben hatte. 

Nun lag er in seinem Sessel und sah aus, als würde er in den nächsten Sekunden einschlafen. Seine ausgestreckten Beine zeigten in Richtung des kleinen runden Tischs in der Mitte des Zimmers, auf dem eine massive Schreibmaschine stand. Um sie herum gruppiert, die senkrecht gestellten Filter einer Menge heruntergerauchter Marlboros, so, wie es seine Tochter Zoe, viele Jahre später in ihrem ersten Roman „Das Blütenstaubzimmer“ beschrieben hatte. „Eine Armee kleiner Soldaten“.


Während er mich schläfrig und ironisch musterte, las ich im Stehen die Seite die auf der Walze der Maschine eingespannt war. Es waren einige Zeilen aus dem Roman „Postlagernd“, der bald bei MARO herauskommen sollte. Ich machte eine Bemerkung zum „lyrischen Stil“ seiner Prosa. Aber tatsächlich war ich beeindruckt und ein wenig schockiert. Es war das erste Mal, dass ich einen Blick auf das Typosskript eines richtigen Schriftstellers werfen konnte. Und das, was ich da las, war umso vieles besser als das was ich schrieb, es war schlicht und bildhaft, hart, direkt und es ging um Leben und Tod.

Matthyas Jenny war gut zehn Jahre älter als ich, hatte einen seltsamen Humor, der sich um die Absurditäten und die Vergeblichkeiten des Daseins rankte, und er war sozusagen der Literaturhäuptling der Stadt.

Direkt unter uns, im Keller, befand sich Jennys „Nachtmaschine“ die Druckmaschine, mit der er die Bücher seines „Nachtmaschine“-Verlags druckte. Und er hatte das von John Giorno erfundene Poesietelefon in die Schweiz, nach Basel, gebracht. Wer die richtige Nummer wählte, konnte sich gelesene Gedichte anhören. Außerdem pflanzte er jedes Jahr den Baum der Poesie, und zog seine beiden Kinder allein groß.

Es war zwei Uhr morgens und ich war leidlich betrunken. Ich hatte im „Wilden Mann“ meine Entlassung gefeiert. Denn die Nacht zuvor hatte ich in einer Gefängniszelle verbracht. Cops hatten mich um drei Uhr morgens beim Wildpinkeln aufgegriffen. Und da ich die „Ich-will-ihre-Dienstnummer-habenNummer“ zur Aufführung gebracht hatte, hatten sie mich in den Streifenwagen verfrachtet, und auf dem Posten gefilzt, Gürtel und Schuhe abgenommen, und erst am nächsten Morgen wieder entlassen. Nicht ohne mir zum Abschied einen Bussgeldbescheid wegen „Ordnungswidrigem Verrichten der Notdurft“ in die Hand zudrücken. Das war  komisch. Denn die ganze Gegend, die Gehsteige, die Straßen, die Rinnsteine, alles, war von Hundekot gerade zu gesprenkelt, wie von glitschigen Rostflecken überzogen. 

Das war die Geschichte die ich Matthyas Jenny erzählte, obschon ich ihm lieber erzählt hätte, dass ich auch schrieb, auch Gedichte verfasste, aber ich erzählte es nicht, denn ich ahnte und fürchtete, dass meine Gedichte nicht gut genug waren. Und als ich nochmal die Seite in der Maschine las, wusste ich es bestimmt.

Matthyas Jenny rutschte immer tiefer in den Sessel hinein, während er sich meine Copsgeschichten anhörte. Sein Blick unter den halbzugefallenen Lidern ruhte nun auf mir, wie auf einer Beute. Meine Geschichte beeindruckte ihn nicht.
Als ich das letzte Mal, sagte er, Ärger mit einem Polizisten hatte, sagte ich zu ihm, dass ich in seinem Job genau so frustriert wäre, wie er.

Dann stand er auf und zeigte mir einen Brief von Charles Bukowski, in dem der sich für die Beedies, die kleinen indischen Zigaretten, bedankte, die Jenny ihm nach Deutschland geschickt hatte,  damals, auf der legendären „Ochsentour“-Lesung in Hamburg.  

Bevor ich mich wieder auf den Heimweg machte, überreichte er mir ein dünnes Buch. Es kam quasi druckfrisch aus der „Nachtmaschine“. Es hieß: „Requiem für einen Goldfisch“ von Jörg Fauser. 

Ich habe es noch in derselben Nacht gelesen.