Büchners Preise

Ich bin zur Zeit in der Schweiz, wo man vor ein paar Tagen keinen Radiosender anwählen konnte ohne sofort das Jubeln über den Schweizer Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss zu vernehmen. Endlich wieder einer von uns! Und was für einer! Nach Frisch, Dürrenmatt, Muschg.

Von Frisch und Dürrenmatt habe ich so ziemlich alles gelesen. Von Muschg? Nichts. Von Bärfuss ein bisschen was. Und so kam ich nicht umhin mich zu fragen, warum dem so war.

Als ich so darüber nachdachte, fiel mir dieses Foto von Bärfuss in die Hände.
Nun, Herr Bärfuss wuchs 30 Kilometer von dem Ort auf, an dem ich zumindest zur Schule gegangen bin. Berner Oberland. Und Berner Oberland ist „Stündelerland“, in Protestantenhand. Eine der vielen Sektenkirchen neben der anderen. Methodisten, Baptisten, Heilsarmee und wie sie alle heißen. Wer hier nicht refomiert ist, ist Immigrant. So wie meine Familie. Katholiken. Das waren die, die mehr als zwei Kinder hatten. In all meinen Klassen gab es nicht mehr als zwei oder drei. Und mein Sitznachbar und Rangelkumpel, war Jude. Aber was hat das mit Bärfuss zu tun?

Ich habe herausgefunden, dass eine gute Methode bei Netflix einen unbekannten Film auszusuchen, die Beantwortung der Frage ist: Möchte ich mit diesen Schauspielergesichtern einen Abend verbringen? Es ist eine gute Methode. Sie funktioniert. Und nun habe ich mich in Verdacht, mit Büchern genauso zu verfahren. Was einigermaßen primitiv ist. Aber so ist es nun einmal.

Und wenn ich mir das Foto von Bärfuss ansehe, sehe ich die Lehrer die ich hatte, den oder besser, die Vikare. Faktisch humorlos, moralische Sicherheit verströmend, Strenge, Gehorsamkeit heischend auf der Grundlage ihrer moralischen Überlegenheit, die aus der Zerquältheit ihres Geistes ans Licht der Welt, und in die Herzen der Menschheit dringen musste.

Kein Welttheater wie bei Dürrenmatt, keine schweren Rotweine und die ungeheure Belesenheit und Klugheit eines Welterklärers. Und auch keine bitteren Einsichten  in die eigene Unzulänglichkeit eines Max Frisch und die gelassenen Kommentare zur Verfassheit seines Heimatlandes.

So gesehen ist natürlich die Wahl der Jury für den Büchnerpreisträger nur folgerichtig. Deutschland braucht Verbündete im Kampf um die moralische Überlegenheit, mit der sie die restliche Welt drangsalisiert. Seit 1945 weiß man in Deutschlanf was Sache ist. Moralisch. Die Polizei in eine Schülerlotsentruppe verwandelt, die Armee eine Lachnummer, und die Russen wären an einem Tag in Berlin, außer sie müssten dazu die Bahn nehmen. So könnte die Invasion abgewehrt werden.

Muschg rühmte im Interview seinen jüngeren Kollegen, nannte ihn mutig, weil er in einer großen deutschen Zeitung, vor Jahren, die Verzwergung der Schweiz aus seiner Sicht thematisert hatte. Ist das mutig? Heute? In einer Zeit, wo man einen Scheißsturm auslösen und Morddrohungen einsammeln kann, wenn man gesteht, dass man Schnitzel mag und Frauenfußball nicht so.

Ja, der Büchnerpreis. Der wichtigste Literaturpreis in deutscher Sprache. So heißt es allenthalben. Ja, Büchner. Was blieb von ihm, außer „Friede den Hütten, Krieg den Palästen.“ Ein Spruch, den wir vor 40 Jahren gerne mal auf Transparente malten. Long time ago.

Ein großer Preis fürwahr. Zumindest die Dotierung ist mit fünfzigtausend nicht übel. Reicht nicht für einen Palast, aber auch nicht mehr für eine Hütte.

Er ist Bärfuss zu gönnen. Wer könnte was gegen ihn sagen? Er hat ja selbst recht, wenn er sagt, dass er nicht recht hat. Wie meine Lehrer. Wie mein Vikar. Wie die vielen Millionen anderen.

Céline schrieb an Henry Miller: „Verstehen Sie es, sich ins Unrecht zu setzen.“
Das ist rätselhaft und irgendwie interessant.

Ich mag Célines Gesicht. Und das von Miller sowieso…