Die Knallbar Diaries (12)

Heute morgen fand ich unter den 267 E-Mails auch eine von einem alten Freund, dem ich mich, obschon wir uns fast nie sehen, verbunden fühle.  Ich weiß nicht einmal genau, wo er steckt, was er zur Zeit treibt, aber es ist egal, denn wir haben vor vielen Jahren eine Menge zusammen durchgezogen, und das ist es, was letztlich zählt.

Er schreibt:

„Lieber Lev,

ich sitze auf der Terasse meiner Hütte, trinke Milchkaffee und sehe dem Regen zu, wie er die Gegend schraffiert, und die eine Seite der Linde schwärzt. Es ist kühl und still, ganz so wie ich es mag, und ich bin allein. Heute ist, lieber Lev – ich erwähne es ungern, da ich gedacht habe, ich kann mich darüber hinwegschwindeln-, mein sechzigster Geburtstag. Das ist – ziemlich seltsam. Es ist vielleicht nicht genau das richtige Wort, aber doch eines der Adjektive, die in etwa das Ereignis mitbeschreiben könnten.
Es ist seltsam, weil es mir irgendwie peinlich ist, sechzig zu sein. Man könnte sagen: Ich schäme mich. Ein wenig. Warum? Tja, wenn ich das wüsste.

Als mein Vater sechzig wurde, kam die ganze Verwandschaft zusammen, in einem großen Gasthof, etwa 50 Leute. Es gab schnurrige Darbietungen, peinliche Darbietungen, es gab Wein und Bier und alte Lieder, es gab Schweinebraten und Kartoffeln mit Bohnen im Speckmantel, und am Schluss waren alle betüttelt und guter Laune, und dann gingen sie ihrer Wege, wie man so sagt.
Mein Vater sah damals so aus, wie man als Sechzigjähriger auszusehen hatte.  Ein Mann, kurz vor der Pensionierung, mit Geld auf der Bank, mit Enkeln und einem gewissen Ansehen, mit dünner werdenden, voll ergrauten Haaren, schlechten Augen, Bauchansatz, und mittleren Herz-und Magenproblemen.
Ich dachte damals: so muss es sein, wenn man sechzig ist. So war es bei seinem Vater, und so war es bei dessen Vater. Grosso modo.
Vielleicht kommt die Scham daher, dass man nun ganz klar sehen muss, dass es nicht mehr so ist, wie es einmal war, und dass es auch nie wieder so sein wird. Wir sind die Angehörigen einer Generation, die mit der Vaters-Vaters-Vater-Geschichte gebrochen haben, und wir sind die ersten, die (vielleicht) eine neue Tradition begründen. Nur: welche? Die der immerwährenden Adoleszenz? Nein, bullshit.

Ich denke heute an all diejenigen, die es nicht bis dahin geschafft haben. Zumindest an die, die mir noch einfallen. Ich denke daran, was sie geleistet haben, und ich fühle so etwas wie Verantwortung. Ein wenig so, als hätten sie mir einen Teil ihrer Jahre abgegeben. Ja. So irgendwie fühlt es sich an, sechzig zu sein. Ein bisschen strange, ein bisschen schwer, und auch ein wenig lächerlich.
Also, mein Freund, denk daran, wenn es dereinst bei dir soweit sein wird. Du hast ja noch etwas hin.
Aber du kennst mich: ein bisschen Geprahle muss auch sein:

4 x 105  BD, 4 x 160 KH, 5 x 135 KB, 5 x 55 BC

Gestern eruiert. Nichts besonderes, aber nicht schlecht, und in dem Laden gibt es keinen im selben Alter, der das packt. Jedenfalls keiner, wenn ich zugegen bin.
Also, heb einen auf mein Wohl und vergiss nicht: Um es zu schaffen, muss man es erst einmal schaffen.

Bis bald

R.»