Irrtümer

Vor dem Secondhandladen, einen Steinwurf vom Geisteszentrum entfernt, stand heute morgen ein Bauarbeiter vor der Tür. Er rauchte und schien auf etwas zu warten. Vielleicht auf Zement, Steine, Werkzeug, den Kollegen oder den holden Feierabend.

Er war etwa so alt wie ich, und als ich ihn so dastehen sah, fiel mir wieder ein, wie oft auch ich so dagestanden hatte, in zementverkrusteten Klamotten, rauchend, wartend, verkatert, gelangweilt, gequält, pleite, voll von Gedanken an Flucht und Selbstmord, und ich dachte heute morgen: Oh Mann, das könntest du sein.

Und als ich das dachte, dachte ich ans Meer, und wie lange ich es schon nicht mehr gesehen, gerochen, gehört hatte. Und dann dachte ich, wenn ich an seiner Stelle wäre, könnte ich mir vermutlich einen Urlaub leisten. Jedes Jahr. Und er hat vielleicht ein kleines Häuschen im Hinterland der dalmatinischen Küste, ein Auto, und kann mit seiner Familie ans Meer fahren. Aber seine Kinder waren bestimmt schon erwachsen und haben selbst Kinder, und er würde den Enkeln beim Buddeln im Sand zusehen, und seine Frau würde sie mit Sonnenöl einreiben. Feine Sache. Zumindest dieser Aspekt.

Aber ich dachte auch daran, wie es gekommen war, dass ich nicht so ein Leben lebe. Und wie ich alles dran gesetzt habe, einem solchen Leben und Arbeiten zu entkommen, und wie viele Anläufe ich gebraucht habe, und wie schmerzlich und spannend es war, dem Trott zu entrinnen, den Chefs, den Firmenfesten, den stupiden Kollegen, die nichts als Muschis und Autos in der Marille haben, und Urlaub und Häuselbauen und Vorwärtskommen, und den Sprüchen von Haider und Co., und dem Hass auf alles Geistige, Intellektuelle.

Ich dachte daran, wie wir damals den «einfachen Mann» verehrten, das Volk, den Arbeiter, und sie uns verachteten und nur an den angestrebten Urlaub in der Südsee dachten, und nicht an die ausgebeuteten Kollegen überall auf der Welt. Das war schmerzhaft. Aber es machte heil. Es war ein ganz normaler Irrtum. Einer von vielen.

Heute bin ich elitär. Das ist der nächste Irrtum.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert