Die Memme vom Bodensee

Manchmal sehe ich mir am TV Literatursendungen an. Eher zufällig. Literatursendungen sind etwas für Leute, die’s gern redundant haben. Im Grunde etwas für kleine Kinder. Also, für Zeitgenossen denen es nicht reicht, dass über den Zeitraum eines Monats bis in jedes Käseblatt hinein, das neueste Zwiebelschälen eines deutschen Großschriftstellers abgefeiert wird. Manchmal schau ich rein, weil ich ein bisschen dumm bin und an den Storch glaube. Es könnte ja mal was Überraschendes geschehen! Aber es ist wie immer. In den Sendungen sitzen Autoren und sprechen in druckreifen Sätzen. Schnelle Sätze. Wer heute als Autor nicht sehr schnell druckreif sprechen kann, wird nicht eingeladen. Das verstehe ich voll und ganz. Wer will schon einem Stammelpeter beim Rumkinozzeln zusehen?

Gestern war’s aber anders. Gestern tat’s richtig weh. Der alte Großschriftsteller vom Bodensee war zu Gast bei Thea Dorn. Jener Mann, der früher als Augenbrauen-Double von Theo Waigel arbeitete, hat ja jetzt zu Gott gefunden. Das ist schön. Ich werde vermutlich auch zu Gott finden, wenn mein Ende sich rapide nähert.

Ein Schmerzensmann, der Gute. Er las aus seinen Tagebüchern von 1974-78. Das Thema war die Kränkung der bundesdeutschen Literatur durch den «stalinistischen» Kritiker Marcel Reich-Ranitzky. Vom Augenbrauen-Double nur RR genannt. RR hatte in den 70-ern den Überlinger in der FAZ in die Pfanne gehauen. Die Äuglein des nach Satisfaktion Dürstenden wurden feucht, als er von dieser Ungeheuerlichkeit berichtete. Thea Dorn, etwas gedunsen wirkend, linste listig von unten herauf zu dem großen Mann, der sie und die Zuschauer, mit «Kind» und «Kinder» anredete. Tja, so geht’s. Die Zuschauer in Literatursendungen sind das, was man in Wien als «Hofratswitwen» bezeichnet. Hofratswitwen, beiderlei Geschlechts, wohlgemerkt. Die fanden’s jedenfalls zum Gackern.

Mich erinnerte das Geplärre (auch im Tonfall) an Aschermittwochsreden in Bierzelten. Es schwang etwas mit. Mir wär’s lieber gewesen, es hätte nicht mitgeschwingt. «Man wird doch wohl noch sagen dürfen», sagte er.

Eigentlich, so gestand er uns Hofratswitwen, hatte er RR «ohrfeigen» wollen. Mit der «flachen Hand», weil er wegen dem Kritiker «keine Faust mache». Er hat’s natürlich nicht getan. Es blieb bei der Faust im Sack und dem Plärren im Fernsehen. Nun, gestern durfte sie richtig zulangen, die Memme vom Bodensee; jetzt, wo Marcel Reich-Ranitzky bereits in seinen 90-ern – vermutlich – den öffentlichen Furor eingebüßt hat.

Ein alter Schrifsteller, der über die zugefügte Kränkung eines Kritikers – nicht mal mit Gottes Hilfe- hinweg kommt? Auch nicht nach fast 40 Jahren? Eine Kränkung, die den Autor nicht vernichtet, ihm auch nicht geschadet hatte. Im Gegenteil. Er wurde und wird von den ewig Gekränkten gelesen, den Zukurzgekommenen, von Leuten die gerne schwatzhafte Bücher mögen, Hofratswitwen, die Trotz und Wehleidigkeit mit Rebellion verwechseln und für Kardinaltugenden halten.

Aber ich leistete mir dann doch den kühlen Luxus, mir an Walsers Stelle einen Dürrenmatt, einen Philipp Roth, Dennis Johnson, Henry Miller, Franz Schuh, Norman Mailer oder Franz Dobler vorzustellen…

Schämt der sich eigentlich nicht?