Sprechen Sie deutsch?

Es ist eine sehr seltsame Erfahrung, Konzentrationslager zu bauen. Für den Gelderwerb. Auch wenn man von der israelischen Theatertruppe AKKO dafür angeheuert und sogar gelobt wird. Ein Lob, das nicht richtig zu freuen vermag. Natürlich: Alles Kulisse, aber echt. Der schmiedeiserne Schriftzug Arbeit macht frei der über dem Tor in Auschwitz sich wölbte, ist in Originalgröße nachgeschmiedet. Die Eisenbahn allerdings, ein Modell. Selektionsrampe. Niedrige, beklemmend enge Gänge, von deren Decken alte Schuhe baumeln. Stacheldraht. Die Wände aus rohen, ungehobelten Brettern mit Fotos und Dokumenten aus österreichischen Archiven tapeziert.

Das Konzept? 
Anstatt einer Erklärung, eine kleine Begebenheit während des Aufbaus in Wien: Beim Aufkleben der fotokopierten Dokumente bekam eine Technikerin plötzlich ein Papier in die Hände, das ihren Großvater als Nazi und Gauleiter auswies. Davon hatte sie bis zu dieser Sekunde nichts gewusst. So ist das. Und das ist dann auch das Konzept der interaktiven Theaterarbeit: Die Enkel der Opfer treffen auf die Enkel der Täter.

Deswegen bin ich in Turun. Das hiesige Stadttheater hatte das AKKO-Theater aus Israel mit dieser Produktion zu einem Festival geladen. Und ich sollte den Bühnenbildnern und Technikern mit meiner Erfahrung bei den Bauten behilflich sein.

Wir sitzen im Büro der Intendantin des Turuner Stadttheaters. Formalitäten in fließendem Englisch. Freundlichkeit und Humor. Die Leiter des AKKO-Theaters: David Mayaan und Moni Youssef  sind schon am Vortag aus Israel her geflogen. Ihre Gesichter sind sonnengebräunt, ihre Mäntel, die an der Garderobe hängen sind riesig, wirken wie die schweren Häute eben erlegter Bären. Meine alte, ausgebeulte Jeansjacke hängt daneben am Haken wie das äußerst unglaubwürdige Versprechen eines noch fernen Frühlings.

Ich schaue aus dem Fenster. Ein wuchtiger, aus Steinquadern gemauerter Turm direkt im Blickfeld. Daneben das Rathaus. Der Turm erregt meine Neugier. Sehe ich kleine vergitterte Fenster? Schießscharten?
Ich frage. 
„Oh, that‘s the prison!“ 
Ich schüttle ungläubig den Kopf. 
„Believe me. It’s true!“
Das ist es. Die Trinität einer Stadt, eines Zentrums: Rathaus, Theater, Gefängnis. 

In Wien: Rathaus, das gegenüberliegende Burgtheater und anstelle des Café Landtmann ein Knast. Mein Herz schlägt schneller bei dieser Vorstellung. So belässt man Gesetzesbrecher und Gesetzlose, die Outlaws, die Kinderficker, die Diebe, die Frauen und Familienmörder dort, wo sie herkommen, wo sie uns erwachsen, nämlich unserer Mitte. Die Killer, die so gewöhnlich und unauffällig sind wie du und ich. Nächstens hören sie in ihren Zellen die Sommer-Frühling-Herbst und Winter-Kirmes auf dem Rathausplatz, das Lachen der Frauen, die Straßenbahnen, das Stimmengewirr der Burgtheaterentlassenen. Das Klappern der Fiakerpferdhufe vermischt mit dem Knirschen der Eisenreifen. Die Autos. Mitten unter uns. 

Im Hilton. Wir arbeiten in Davids Zimmer. Konzentriert und beinahe atemlos schnell. Wir gehen die Pläne des Bühnenstandortes durch, legen die Topographie fest: Da, dort, nein, besser hier, gut. Nachher ist es vorbei. Die Arbeit. Keiner wird mehr ein Wort darüber verlieren, nichts wird nachbesprochen, nicht eine Silbe. Wenn gearbeitet wird, wird gearbeitet, nichts sonst. Aber danach ist danach. Bereits in Wien hatte mich diese Methode beeindruckt. Das kannte ich nicht von heimischen Produktionen. Steckte man da in einer drin, kam man – wenn man Glück hatte – erst wieder raus, wenn alles vorbei war.

Später beim Bier mit Moni in der Hotelbar. Gegen 22 Uhr schwärmen die Huren auf die Tanzfläche, so plötzlich und schön wie Nachtfalter, die, aus der Dunkelheit entlassen, ins warme Licht strömen. Sie wollen in unseren Zimmern schlafen. Sagen Sie. Schön, wie sie sind. Was sollen wir machen?
„I don‘t pay for love“, sagt Moni mit seinem wunderbaren Lächeln.
Wir sitzen an der Bar und kaufen für alle Schokolade.

Es ist 8 Uhr. Pünktlich erscheint der Bus. Ich lade meine Tasche ein und werfe einen Blick auf den Gefängnisturm. Es ist still. Nichts rührt sich, weder in den Schießscharten noch auf den Platz davor. 

Der Himmel ist mit Schneewolken verhangen. David und Moni erscheinen. In ihre mächtigen Mänteln gehüllt, sehen sie aus wie verirrte und zufällig aufgefundene Wanderer. Die braunen Gesichter lugen aus den hochgeschlagenen Kragen heraus. Aber sie werden recht behalten mit ihrer Vorsicht der Kälte gegenüber: Es riecht nach Schnee, und prompt fängt es kurz nach Ortsende zu schneien an. Und wie! Nach 10 Minuten ist die Fahrbahn nur noch zu erahnen. Die Termine in Warschau werden platzen, das scheint klar. Nebel breitet sich über die Ebene. Wir überholen im Schritttempo ein Pferdefuhrwerk, das plötzlich vor uns auftaucht. Es dauert Minuten, bis der Kleinbus vorbei ist. Jerzy, unser Begleiter, weiß zu berichten, dass es für die Strecke Warschau-Danzig zwei stolze Schneeräumfahrzeuge gibt. Das sind ungefähr 400 Kilometer Straße. Bei dieser Art von Schneefall ist das so optimistisch wie der Besitz eines großen Strandtuchs und einer Sonnenmilch.

Und so rutschen wir in einem grauen Gespinst aus Nebel und Schnee von einer Straßenseite zur anderen, von Norden nach Süden, und irgendwann packt Moni den Inhalt seiner Umhängetasche aus: Kekse, Schokolade, Kaugummis, Bonbons. Niemals – und das ist amtlich – verlässt er das Haus ohne Mundvorrat. Von Kindheit an. Der Grund liegt in der Liebe zu seiner Mutter, die von den Nazis aus der Wohnung  heraus verhaftet und verschleppt wurde. Der Hunger, die Kälte, der Tod. Sie hat überlebt. Und wacht seither mit verzweifelter Strenge über ihren Sohn, damit er ja nie ohne kleinen Essensvorrat das Haus verlasse. 

Wir brauchen schließlich 5 Stunden für die 200 Kilometer. Aber, als hätte der Chauffeur, das Wetter mit in seine Reisezeitberechnungen einbezogen, erscheinen wir rechtzeitig zum Termin im jüdischen Museum Warschau.

Es ist düster, steinern, hoch und hallend. Ein dürrer, ungelenker, immerzu Verbeugungen andeutender junger Mann  führt uns durch eine Ausstellung, die mich nicht von der Düsternis der Räume ablenkt. Er stößt stakkatoartig sein „Dag-dag“ (Ja-ja) aus. Es klingt und echot von den Wänden wie das Tak-tak von Spielzeuggewehren. Es nervt.

Wir landen danach in einem brandneuen mexikanischen Fastfood Lokal, und decken uns mit Burritos, Tacos und scharfen Dips ein. Eine Premiere für Jerzy. Fastfood-Debut in Warschau. Wir essen draußen vor dem Lokal. Der Platz ist riesig, sehr kommunistisch, reiner platzverschwendender Osten. Die Trams alt und kreischend, wie zu groß geratenes, antikes Blechspielzeug. Die Autos qualmen in mehreren Reihen vorbei und der Burrito schmeckt wie ein Stück mit  Zwiebeln parfümierter Plastikschlauch in einer alten Zeitung. Genau wie anderswo auch. 

Auf der Suche nach dem Jüdischen Theater Warschau stehen wir plötzlich vor der Synagoge. Ein unscheinbarer Betonbau. Und jemand sagt: „Gehen wir doch rein“. Jerzys Augen leuchten abenteuerlustig. Fastfood-Premiere und jetzt die Synagoge! 

Wir betreten einen kleinen Vorraum. Es ist summend still. Moni ist religiös und weiß was zu tun ist. Er berührt mit den geküssten Fingerspitzen den Stein am Eingang. David ist anzusehen, dass ihm die Sache nicht schmeckt. Warum sollte sie auch? Er hat mit Religion nichts am Hut.

Der schmucklose Raum ist nicht groß. Platz für 100 Gläubige, vielleicht. Jerzy, als gut ausgebildeter Katholik weiß scheinbar auch, was zu tun ist. Er nimmt seinen Hut in die Hand. So ist es doch, denke ich, wir wissen nichts voneinander. Dann stehen wie etwas ratlos und verlegen herum. Was haben wir erwartet? David wendet sich zum Gehen. Aber dann passiert doch noch etwas. Von irgendwoher taucht ein großer, schwarzer Hut auf. Er ist nagelneu und gehört dem fast zwergenhaften Schammes, dessen wache und kluge Augen uns mustern. Der Mann redet auf uns ein. Unsere Köpfe wenden sich Jerzy zu. Wir warten auf die Übersetzung. Jerzy zuckt die Achseln und sagt: „I can’t understand his polish!“ 

Noch während ich versuche mir die Szene vor meinem innern Auge zu vergegenwärtigen: zwei braun gebrannte Israelis, ein schweizerischer Wahlwiener, ein polnischer Katholik, den Hut in der Hand, der aber die Landessprache in einer Warschauer Synagoge nicht verstehen kann, nimmt mich der kleine Mann an der Hand und zieht mich zurück in den Vorraum. Die anderen folgen. Ich deute seine Gesten als Aufforderung zum Warten. Er entschwindet, sozusagen.

Aber er ist ebenso plötzlich wieder da, nimmt Jerzy den Hut aus der Hand. Soll ihn aufsetzen. David stülpt sich die Kapuze seines Sweaters über und ich bekomme eine Kippa aus Viskose mit ausgefransten Rändern. Dann geht es im Gänsemarsch zurück.
Jerzy zuckt wieder die Achseln. „I can’t understand him, really!“
Ich wage einen Versuch, spüre dabei, wie mein Puls sich beschleunigt.
„Sprechen Sie deutsch?“
„Aber freilich.“
Es ist ein sehr jiddisch eingefärbtes Deutsch. 

Und noch während ich, der schweizerische Wahlwiener in einer Warschauer Synagoge die Geschichte der Juden aus dem Ghetto für einen katholischen Polen und zwei Israelis aus dem Jiddischen ins Englische übertrug, hätte ich irgendwie singen mögen. So verrückt und denkwürdig ist dieser Moment.

Ich erwähne, dass zwei der Herrschaften aus Israel hergekommen sind und wir uns gleich mit dem Leiter des jüdischen Theaters treffen werden. Ich weiß nicht, ob er verstanden hat, aber ich merke, dass es ihn nicht sonderlich interessiert. Er hat etwas anderes vor. Das Wohl seiner armen Gemeinde vor Augen, einer Gemeinde, die, wie er in beiläufiger Traurigkeit erwähnte, von 50‘000 Mitgliedern auf 500 – nun, wie sagt man in diesem Fall?- massakriert? wurde. Dann bückt er sich und ein hölzerner, offener Kasten mit Stiel, ähnlich einer großen Kehrschaufel liegt nun in seiner Hand. 

„Das hier ist für de Rebbe“, sagte er und seine Linke beschreibt einen Halbkreis. Danach aber deutet sie auf den Holzkasten. “Und das hier, ist für Geld.“
Ich übersetze. Man ist verdutzt. Warum denn? 
Aber wir leeren alle unsere Taschen, geben unsere Zlotys dran.
„Langes Leben“, wünscht der kleine Mann. „Langes Leben.“
Seltsam ausgelassen sind wir, als wir wieder draußen stehen. Erleichterung?
„This was like robbery!“, sagt David.

Eine Stunde später, Empfang im jüdischen Theater. Es liegt nur einen Steinwurf von der Synagoge entfernt. Ist es schon wieder düster und fremd und melancholisch? Riecht es nach altem Staub in Plüsch oder sieht es nur so aus? Vielleicht riecht es doch nach Vanille und Tabak und alten, warmen Glühbirnen? Auch nach einer Stunde und viel Kaffee bin ich in Gedanken noch in der Synagoge und versuche zu ergründen, was mich so eigenartig berührt hat. 

Aber dann werden wir vom Intendanten, einem außerordentlich liebenswürdigen und sehr alten Mann mit vollendeten Manieren, empfangen und durch die Innenräume geführt. Ich bleibe ein wenig zurück, höre vor mir die wohlbekannten ch-Laute der Unterhaltung in Hebräisch, einer Sprache, von der ich weniger als nur ein paar Brocken verstehe und die mich immer ein wenig an Schweizerdeutsch erinnert.

Irgendwann, wir sind inzwischen im Büro des Intendanten angekommen, wendet er sich mir zu, spricht mich auf hebräisch an. Moni klärt ihn auf. Ich weiß nicht, was er ihm über mich erzählt und ich habe auch später nie gefragt, aber ich sehe noch immer den Mann vor mir, sein Lächeln und seinen ganz und gar ungewöhnlichen Blick, klar und fest, voll Güte und Willen, und mir schwindelte doch noch immer von der Begegnung in der Synagoge, und dann geschah etwas, das ich hätte erwarten können, aber mit dem ich nicht rechnete, etwas, das mich so eigenartig wehrlos machte, dass mein Kopf nur so schwirrte. Ich hörte meine eigene Sprache. Vollendete Höflichkeit. Ein altes, ein wenig verschnörkeltes Deutsch, wie es gebildete und gut erzogene deutsche Menschen irgendwann einmal gesprochen haben mögen. Tausend  Dinge gingen mir gleichzeitig durch den Kopf. Bilder aus den Dokumentationen, brüllende SS-Männer in Stiefeln, Mütter, denen man ihre Kinder aus den Armen gerissen hatte und die mit diesem verrückten, alles erstickenden Schmerz in den Gaskammern sterben mussten; eine Phantasmagorie aus den applizierten Fotos in Wien, von gefolterten, verhungernden, in Lumpen gehüllte Menschen, und irgendwo, wie in den letzten Winkeln meines Gehirns, wiederholte eine Stimme immer wieder: Wie kann er deutsch sprechen? Wie vermag er das nur?

Das Projekt in Turun kam nicht zustande. 
Der wichtigste Sponsor sei abgesprungen, hiess es. 

Ich war wieder in Wien und zahlte meine Schulden.

Aus „Das Flackern der Flamme bei auffrischendem Westwind“ (Songdog Verlag)

Sagt

der Ermittler zum verdächtigten Einbrecher: „Wo waren Sie am 2. April 2020?»
„Den ganzen Tag zuhause.“
„Und das sollen wir Ihnen glauben?»

Es ist

vorbei mit Covi-Diary. Was in dieser Angelegenheit jetzt noch folgt, ist entweder die Apokalypse oder Redundanz. Ich verabschiede mich. Nicht aus dem Blog, aber ich wende mich wieder wichtigeren Dingen zu. Zum Beispiel Büchern.
Ich möchte hier meinem Kollegen aus Südgermanien vollends zustimmen

http://www.franzdobler.de

wenn er über Maxim Biller spricht.
Mach Guck!

Covi-Diary (32)

Wie merkt man, wenn etwas, was nicht so normal war, nun wieder normal wird? Antwort: Es wird laut.
Ich vermisse bereits jetzt jenes Wien, das sich auch Georg Kreisler in einem Song gewünscht hat, und das er leider nicht mehr erleben durfte. Siehe Covi-Diary (6).

Jetzt wo es normal ist, dass man sich aus dem Weg geht und das Vermummungsverbot in Permanenz gebrochen wird (man könnte sagen: Mit einer Burka wär man bestens bedient), die Angst gewichen ist, und man schon bald wieder in den Arztpraxen und beim Friseur rumsitzen darf, und der Gürtel wieder röhrt und tobt, wird einem bewusst, wie beschissen diese Normalität eigentlich immer noch ist. Ohne Kneipe, ohne Wegfahren.
Es ist ähnlich wie der Spruch, der bei einer Freundin über dem Kücheneingang prangt: «Nüchtern betrachtet, war es besoffen besser.»

Ich weiß, dass diese Normalität für viele überlebenswichtig ist: Z.B. Alleinerziehende mit drei kleinen Kindern in einer 30 qm Wohnung. Und dergleichen. Das ist die Härte. Mein Beileid.

Die Radfahrer pesen auch schon wieder auf den Gehsteigen, Bauarbeiter mit ihren Smartphones in den dreckigen, verkrusteten Handschuhen, die nur noch einarmig arbeiten können, das normale stumpfsinnige Gebrüll aus der Wohnung schräg gegenüber (Ich glaube, sie nennen es feiern oder Party), Kindergestreite aus dem Hort. Wir kriegen nur den Normalitätsmüll zurück. Die guten Sachen werden wir lange nicht haben.
Und so brauch ich auch diese „Normalität“ nicht.
Ich will meinen Shutdown wiederhaben.

Covi-Diary (31)

Ich kann mich nicht erinnern jemals so lange in einer Schlange gestanden zu haben, wie heute morgen. Vierzig Minuten. Ich stell mich nie in eine Schlange, die aussieht als würde sie länger als 7 Minuten dauern. Aber heute musste ich eine Ausnahme machen. Es ließ sich nicht aufschieben. Ich musste es tun. Was für ein Erlebnis!
Es war in einem großen Hinterhof der zu einem HIntereingang führte, und ich war extra 5 Minuten vor Öffnung da. Aber vor mir waren schon etwa 10 Mitmenschen mit Mundschutz und Handy, und als ich etwa 10 Minuten stand, war der Schwanz der Schlange schon nicht mehr zu sehen. Ich aber war vorbereitet und kam mit Eike Geisel. Ich stand in ner Schlange und las. Ging ganz gut. Hatte ich noch nie gemacht. Lesen in Schlange. Die Vorstellung davon war wesentlich schlimmer, als die Wirklichkeit. Um ehrlich zu sein: Es hat mir nichts ausgemacht. Und ich empfand Mitleid mit jenen, die am gewundenen Schlangenschwanz auf dem Gehsteig standen, und nicht mal sehen konnten, wie lange der Scheiß noch war. Waren bestimmt an die 50 Leute. Wie ich beim Rausgehen feststellen konnte.

Das Rausgehen war dann allerdings nicht ganz „socialdistancing-like“. Ich stelle fest, dass gerade in diesen Zeiten das „Womenblocking», das weibliche Pendant zum „Manspreading“, etwas zugenommen hat. Ich war ja jobmässig als Koch täglich in diversen Supermärkten unterwegs, und da bekommt es oft mit Womenblocking zu tun. Es ist eine Form von Rücksichtslosigkeit (im Wortsinn), die vor allem von Frauen begangen wird, wie Manspreading von Männern.
Das Abstellen von Einkaufswägen an Engstellen, so dass kein Durchkommen mehr ist. Dann das Chatten auf Gehsteigen an verengten Stellen, wenn zum Beispiel ein Elektrokasten, ein Hydrant oder eine Baustelle den Durchgang eh schon erschweren. Und so weiter und so fort. Man müsste nur einen oder zwei Meter weiter gehen. Aber oft ist dies dem weiblichen Mitmenschen nicht zumutbar.
Sie haben bestimmt einen Grund dafür. So wie die Manspreader auch einen haben: Sie signalisieren den Mitmenschen, dass hier ein Arschloch sitzt.
Wie das bei den Womenblockern ist, werden uns dereinst die Psychologen erklären.

Aber ein guter Tag, auf jeden Fall. Vor allem auch, weil ich eine geniale Lösung für eine Fahhradreparatur gefunden habe. Und wie alle wissen, macht reparieren glücklich. Mich auf jeden Fall.

Covi-Diary (30)

Heute voll die Lockerung! Halleluja! jubelt der Freiheitsliebende und begibt sich mit Maske vor der Pappn in eine der tausend Schlangen vor irgendwelchen Shitläden. Die ganze Favoritenstraße über dem Gürtel war voller Schlangen, und niemand wusste mehr was Arsch und was Kopf ist. Manchmal überkreuten sich die Schlangen. Es war wie in einer Schlangengrube. (So sah es der Dichter in mir.)

Das ist also der Beginn der Freiheit? Schlangenstehen und unter der Maske schwitzen. Ich fand – hab ich schon mal gesagt – das Ungelockerte besser. Aber ich werde schon wieder mit Qualantäne bedient werden. Denn so wie das aussieht, werden wir das Virus nicht loswerden, und auf Lockerung folgt shutout, dann wieder Schlangenstehen, Shutout und so weiter und so fort, bis wir alle vollkommen Meier sind und uns Steine um den Bauch binden und von der Friedensbrücke springen.

Jedenfalls war heute wieder Lärm. Schlangestehen und Lärm, das sind die Proponenten der neuen Freiheit.

Aber natürlich, es gab auch Nettes: Der beste aller Läden hat wieder aufgemacht, und ich freute mich die genialen Kaufleute wiederzusehen, und sie freuten sich mich wiederzusehen, und ich kaufte einen Heavy-Fettlöser, bockte meinen Renner auf und begann ihn zu putzen und für die frühmorgendlichen Ausritte zu striegeln und ein paar neue Nägel in die Hufe zu treiben. Schätze, in etwa einer Woche ist die neue Donau so warm, dass ich in ihr schwimmen kann. Mehr als 16 Grad brauch nicht. (Yeah, ich bin ein hartes Kerlchen, Scheißerles!) Und an jenem Platz, wo ich um 7 Uhr bin, da gibt’s keine Schlangen. Höchstens die richtigen. Da gibt’s niemanden. Nur mich, mein Renner und die Neue Donau. Und weiter oben ein früher Angler. Dann schwimm ich über das Ding und sehe zu, wie im Gleißen der aufgehenden Sonne die S-Bahn über die Eisenbrücke rumpelt. Leer und geisterhaft. Oder aber mit einer Ladung MItmenschen, die sie zu einer Schlange karrt.

Man kann sagen, das sind sehr erfreuliche Aussichten.

Covi-Diary (29)

Die Welt erfuhr heute, und berichtete ausgiebig darüber, dass Österreich die Dingsda lockerte, die Maßnahmen, und Geschäfte wieder öffnen ließ. Vor allem Baumärkte. Es kam, wie es kommen musste: Schlangen auf den Parkplätzen und so weiter und so fort. Wir alle, sagt zumindest die Regierung, wollen den „Alltag“ wiederham.
Ich komme gerade vom neuen Alltag draußen. War auf der Post um ein Paket abzuholen. Das Gefühl war: Die Luft ist draußen. Abgeschlafft. Fahrräder wie eh und je, Muttis mit Kinderwagen, Blumenmarkt auf dem Elisabethplatz. Noch keine Leute auf den Parkbänken, weil heut noch der letzte bissige Nordwester herumfuhrwerkt, aber bald gibt der auch den Geist auf, dann ist nur noch „Badewetter“ bis im November.

Ich muss sagen, mir hat’s vorher besser gefallen. Gefahr lag in der Luft. Man konnte Fehler machen, die schlimm für einen und die Lieben ausgehen konnten. Kann man natürlich immer noch, aber das Ding ist nicht mehr drin in den Leuten. Mein Eindruck. (Ich bin da wie Handke: Es zählt das Gefühl des Dichters. Nicht die Fakten.)
Der Mitmensch ist wieder so langweilig wie zuvor. Vielleicht noch ein bisschen mürrischer, weil sie sich vor den Hämmern fürchten, die noch auf uns niedersausen werden. Wirtschaft, wie’s so schön heißt.
Das ist natürlich auch für unsereiner Shit, aber für unsereiner war es schon immer shitty, wirtschaftlich, wohlgemerkt.

Schätze mal, der ganze Scheiß wird uns noch richtig zu schaffen machen. Ein Heer von Arbeitslosen, von jungen Arbeitslosen, die jetzt nicht mehr so richtig Party machen können und einen Schleim entwickeln.

Ich hab so das Gefühl, dass diejenigen, die glauben, dass das Ding einfach wieder hochfährt – wie ein abgestürzter Computer, der aber vorher alle Dateien gesichert hat -, dass sich die vermutlich täuschen werden.

Aber wie immer gilt auch: Ich werde mich vermutlich irren. Wie fast immer.

Aber nur Mut. Solange Boccellli noch vor der Scala singt, und Trump seinen normalen Schwachsinn verzapft, ist noch nicht alles verloren.
Und außerdem gibt’s noch eine neue Folge von „Better call Saul“.

Cheers!

Covi-Diary (28)

Andrea Boccelli ist ein Sänger, dem Sportfreund bekannt als Auslöser einer Tränenflut bei Gentleman Henry Maske, als dieser den Ring für seinen letzten Kampf bestieg, der dann doch nicht sein letzter war. „Time to say goodbye“, ti ricordi?
Jetzt will er uns Mut machen,der Boccelli, und singt vor der Mailänder Scala „Amazing Grace“.
Wohlgemerkt: Boccelli ist Sänger. Und er singt. Und dann soll mir das Mut machen?
Draußen vor dem Fenster bellt ein Hund. Es ist ein Hund, und er bellt. Ich glaube, er bellt, weil er mir Mut machen will.
Ich bin Autor. Ich schreibe. Mein Schreiben soll euch Mut machen.
Ich bin Spargelbauer. Ich steche Spargel. Mein Spargelgesteche soll euch Mut machen.

Okay. Schon wieder einer in der Legion derer, die mir Mut machen wollen. Mut wozu? Es braucht keinen Mut, mit etwas klar klarzukommen, für das es keine Alternative gibt. Ein bisschen mehr Mut braucht es schon, um vom 3 Meterbrett einen Rückwärtsseemannsköpfler zu machen. Es braucht Mut, obschon einem nicht wirklich was passieren kann. Na ja, außer ein paar Minuten leidlichen Schmerz. Wenns man verbockt. Aber wenn man’s macht, dann hat man die Wahl gehabt. Man kann’s einfach auch nicht machen. Aber das Virus ist alternativlos. Es ist da, und es geht nicht weg, wenn ich Mut zeige. Oder singe. Dann erst recht nicht. Denn dann sende ich die winzigen Scheißkerle hinaus in die Welt.

Wenn Boccelli mir Mut machen möchte, dann könnte er zum Beispiel einen rückwärts Seemannsköpfler vom Dreimeterbrett machen. Er ist blind, aber dazu braucht man keine Sicht. Das wäre etwas, das mir Mut machen würde, weil ich jemanden sähe, der sich überwindet. Das ist es doch, was einem Mut macht. Das Sichtbarwerden von Furchtüberwindung. Nicht wenn Sänger singen, Autoren schreiben, Maurer mauern. Oder Rihanna mir von ihrem BiPo erzählt.

Das ist einfach nur Scheiße von Leuten, die in diesen Zeiten Reklame für sich machen wollen.
Fuck those cunts!

Covi-Diary (27)

Am Ufer des Kanals, nahe am Wasser bei dem großen Steinen, war ich zurück in den Frühlingen meiner Kindheit, am Ufer der Aare, wenn sie vor der Schneeschmelze in den Bergen, noch wintermager, Teile ihres Betts herzeigte, manchmal halbverendete Fische zwischen schlickbesetzten Steinen; und als sie roch, wie sie sonst nie roch: fischig, gammlig, schlickig, gärend.
Aber heute morgen war es nur der Donau-Kanal, und ich tat noch immer gerne, was ich schon als Kind am Liebsten tat: alleine umherstreifen. Die Welt war ein Abenteuer.
Und jetzt, in der Jugend des Alters, kommt sie wieder zu mir, diese Lust zu gehen, zu streifen, in Flüssen und Seen zu schwimmen, mich durchs Dickickt zu schlagen, im Freien zu schlafen.
Woher? Warum? Weshalb?

Später, auf dem Rückweg durch den 1. Bezirk, auf den leeren Kreuzungen des Ring, auf den leeren Plätzen, in den leeren Gassen die Fotografen. Und man konnte bereits die kommende Bücherflut erahnen: «Das war Corona 2020»

Dann bei der Sezession, das Marc Anton Denkmal, und die Erinnerung an (glaube ich) 1992, als ich für das Tagesanzeiger-Magazin eine kleine Repo über den damals unglaublich beliebten und noch berühmteren Dieter Moor schrieb, und der Fotograf ihn auf die goldene Blätterkugel auf dem Sezessionsdach setzen wollte, und wir war am Denkmal vorbeigingen und Moor sagte: Unglaubliche Ausstrahlung von Macht, was natürlich richtig gesehen war, und es auf der Treppe zu einem Menschenauflauf kam, und die Leute tuschelten und die Hälse reckten, weil Dieter Moor leibhaftig in die Sezession ging.

Zuvor hatte er mir im Café Museum verkündet, dass Kunst von Kommunikation komme, und dass ich «es geschafft habe», wenn das Tagi-Magi mich für eine Repo engagierte. Natürlich war das eine wie das andere völliger Blödsinn, aber immerhin hatte ich geschafft, dass ich von nun an von den Obern im Café Museum nicht mehr abgesnobt wurde, da sie mich mit Dieter Moor gesehen hatten, und das war auch das einzige, was von der Geschichte gut ausging.

Voll durch den Naschmarkt, vorbei an den Fresslokalen mit den winzigen Tischen, enger als in Paris, Lokale die bereits mit meiner Anwesenheit überfüllt wären, aber jetzt woa goa nix, und das war auch gut so.

Ein wenig wehmütig am „Anzengruber“ vorbeigstreift und dann rauf auf die Wieden, der Heimat der Mizzi Schinagl, die jetzt auch meine Qualantäne ist.

Cheers!

Covi-Diary (26)

Ich nahm wieder mal den McCarthy-Roman „No Country for old men“ in die Hand, um darin herumzulesen und zu studieren. Blumberg2 ist noch 2 mal durchgearbeitet worden, wobei ich manchmal eine Stunde über einem Satz verbrachte, und nach dem richtigen Wort fahndete. (So what?) Aber was hat das mit „No Country…“ zu tun?
Im Grunde gar nichts, denn in Blumberg2 ist viel Gefühl und Instrospektion, und in „No Country…“ wird ausschließlich Handlung beschrieben.
Die Emotionen entstehen durch McCarthys genaue Sprache. Beim Leser. Und vielleicht auch bei der Leserin. Ein Bild folgt dem nächsten.
Die Coen-Brüder brauchten für ihren Film (fast) kein Drehbuch. Lest den Anfang und seht euch den Anfang des Films an. Deckunsgleich umgesetzt. Bis in die kleinsten Details.
Die einzige Instrospektion die McCarthy liefert, sind die Seiten des Sheriffs, der der Handlung eher wie ein Zuschauer folgt, als dass er eingreifen könnte.
Warum sage ich das alles? Nun, ich möchte auch sowas machen. „No feeling ist the best feeling“ (J.J.)

Und dann las ich noch ein bisschen in der Spiegel Bestsellerliste rum. Ildiko Kürthy. Dazu sag ich jetzt nix. Und dann las ich noch eine Kurzgeschichte von Doron Rabinovic. Es ging natürlich um die Liebe in Zeiten der Ansteckung.
Dazu sage ich persönlich auch nichts, füge aber den Post einer Leserin hinzu:
«Schöne Geschichte, ich mag den Schriftsteller, habe „XXXX» am Nachtkästchen liegen.“
Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wer zum Hugo, hat heute noch ein „Nachtkästchen“? Und wie sieht so was aus? Ist da immer noch der „Scherm“ (der Nachttopf) drin? Und in der Lade das „Bettmümpfeli“ (Das Betthupferl) von „Mon Cheri“.

Ansonsten sitz ich noch jeden Morgen auf dem Ergometer lese Eike Geisel, und warte darauf, dass mir der Bittermann den nächsten Pohrt-Band schickt.

Frohe Ostern!