Der Grund

Heute saß ein Neuer vor dem Laden. Er war ziemlich jung, hatte einen Bart und hockte auf einem Bündel, vielleicht seinem Schlafsack. Er war dreckig, und alles an seiner Kleidung war zerschlissen. Keine Frage: Ein Sandler.
Er hatte eine Platz beinahe in der Mitte des Gehsteigs gewählt, saß da, beide Hände zu einer Bettelschale geformt.

Als ich den Laden verließ, suchte ich einen Euro heraus, ging zu ihm hin und legte die Münze in die Handschale. Der Typ sah nicht einmal auf, sagte kein Wort, und ließ die Münze mit einer fließenden Bewegung in seiner Hemdtasche verschwinden, als hätte ich bei ihm eine längst fällige Schuld beglichen.

Ich ging weiter und lachte. Der Scheißkerl zwang mich, darüber nachzudenken, warum ich ihm den Euro gegeben hatte. Ja, warum eigentlich? Der Typ war mir egal, wie jeder andere, den ich nicht kannte. Er konnte von mir aus verhungern, es scherte mich nicht. Und trotzdem hatte ich ihm Geld gegeben. Ich hatte keine Antwort. Das war interessant.

Ich glaube, ich habe ihn verwechselt. Mit einem anderen Penner, den ich manchmal morgens im Laden das erste Billigbier zischen sah. Ich glaube, ich wollte ihm zu seinem ersten Bier verhelfen. Aber er war es nicht. Es war ein anderer. Der trank vielleicht nicht mal Bier.

Ich hoffe, morgen ist wieder die reguläre rumänische Bettlerin beim Eingang. Sie hat ein bezauberndes Lächeln voller Zahnlücken, und winkt mir immer schon vor weitem zu. Und wenn ich vorbei gehe, spricht sie mit mir, sprudelt los, obwohl ich außer:“Wie geht’s?“ nie etwas sage.

Ich mag sie. Das ist der Grund, warum ich ihr (fast) immer was gebe.

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