Schweiz. Heimat.

Irgendwo bei Paul Nizon las ich, dass Elias Canetti nicht nur in Zürich gewohnt, sondern dass Zürich ihm auch Heimat gewesen war. Aber nicht dem Iren, der ebenfalls auf dem Friedhof Zürich-Fluntern liegt, dem Dichter des Ulysses, dem Trinker Joyce. Keine Heimat in Zürich für James. Nur Wohnen. Arthur Köstler war auch in der City an der Limmat. Fand es ungemein schwierig in Zürich arm zu sein. Und der Lenin auch. Der Hugo Ball und die ganze klasse DaDa-Blase. Ob denen Zürich Heimat war?

War mir meine Heimat, je Heimat, frage ich mich? Und – was soll das denn sein, diese Heimat? (Ich empfehle zur Antwortfindung die gesamte literarische Produktion der Schweiz der letzten 100 Jahre. Eine wirkliche Schweizer-Spezialität, wie das Käse-Uhr-Schokolade-Kuh-Fondue.)

Nizon war die Schweizer Heimat offenbar auch nicht Heimat, oder was? Er verzog sich nach Paris, ins «Gewimmel» der Großstadt. Mais oui. Die Großstadt. Der einzige Ort, wo unsereins angemessen leben kann. Anonym, versteckt und offen, fremd – und heimisch zugleich.

Oder eben. Hier oben. In den Bergen. Anonym, versteckt und offen, fremd – und heimisch zugleich.
Hier, im Haus am Waldesrand (wie im Song «Oh, my Darling» von Ronny!), lese ich Elias Canetti: «Das Buch gegen den Tod».
Nun ja. Ich bewundere Canettis lebenslange Todfeindschaft mit dem Tod. Diesen durch nichts zu erschütternden Durchhaltewillen; unbeirrbar, kompromisslos bis hin zum Opfertod, den er einem Gott anbot, falls nur ein einziger Mensch die Unsterblichkeit erlänge.

Aber ich weiß nicht so recht. Zuviele Aphorismen. Bissi schal, der Stoff. Aber die Fundstücke aus fremden Texten entschädigen. Auch der Index ist hoch interessant. Dort stieß ich u.a. auf «Hemingway».
Bei Hemingway hört sich für Canetti alles auf. Verständlich, denn Hemingway soll gesagt haben: «Einer, der nicht getötet hat, ist kein Mann!»
Und dies bringt Canetti so in Rage, dass seine Anti-Hem-Suada ihn in eine wahre Vernichtungsphantasie stößt: «Mehr als ich sagen kann, ekelt mich die Dummheit eines Hemingway. Ich gönne jedem sein Leben, aber es scheint mir, dass seines besonders überflüssig und schädlich war.»

Bissl gar krass, würde ich sagen, und wehe dem, der dies über den Canetti hätte verlauten lassen. (Nicht, dass dies nicht auch gesagt wurde. Canetti lebte bis in die 40-er in Wien).

Aber, denke ich mir, jemandem dem Zürich nicht nur Wohnort sondern Heimat war, darf man bezüglich Ernest Hemingways nicht zuviel zumuten. Damals nicht, heute nicht, morgen nicht …

Schweiz. Berge.

In den Bergen.
Chinesen. Bramahnen. Stylische Saudis und ihre Frauen im Niqab. Chassidische Juden mit Kippa und ihre Buben mit Schäfenlocken. Junge Chinesen spielen auf ihren Smartphones bunte Spiele, während die Bahn eines der bemerkenswertesten Panoramas ever, wieder einschlürft. Nun ja, wer soll denn da noch kucken?, gibts ja alles auf Video, Plakaten und Werbetrailern. Vielleicht ohne die Schweizer Familie am Wegesrand, die fleißig den Hitlergruß einübt. (Ist ja seit neuestem erlaubt.) Oder zeigen sie nur alle gleichzeitig auf den langen, langen Wasserfall von der Grütschalp?

Dann bin ich unten im Haus, und all das gibt es nicht mehr. Sitze auf der Veranda und puste meinen Atem in die Welt und die Welt pustet zurück. Ich denke an die Schmach, dass ich niemals die Unendlichkeit verstehen werde, die schwarzen Löcher und die Ausdehnung des Weltalls. Scheiße, wa!? Ich könnte jetzt sagen, ich verstehe ja nicht mal eine Chinesin mit Smartphone, aber das wäre zu billig, und billig, mes chers, ist hier gar nichts, was ich inzwischen als angenehm empfinde, denn wo’s teuer ist, ist’s meistens auch ruhig, denn der Lärm ist das Privileg der Jugend und der Billigkeit. Also. Ich beklage mich nicht. Ich singe. Ich habe eine Gitarre und singe «Danny Boy» und «If could read my mind» und «For the good times».

Wenn niemand zuhört, schäme ich mich nicht meiner Stimme, bin entspannt und treffe die Töne ebenso gut wie Harry Dean Stanton, der mir gezeigt hat, wie man singt.

Okay, Freunde. Hier sind die Berge. Ich höre nur das Rauschen des kleinen Brünnibachs. Und das Radio. Jemand liest was aus einem neuen langweiligen Schweizer Roman. Und niemand erklärt dies zur Tautologie. Nicht in den Bergen.

Dann denke ich noch ein wenig an die Walser, die aus dem Wallis über den Alletschgletscher kamen um diese Ecke hier zu besiedeln. Ein Mysterium. Über die Gletscher! Mit ihrem Vieh und den Säuglingen und ihrer Habe. Es ist ein Geheimnis, wie das der Pyramiden und Stonehenge. Nur interessant.
Oder wie die Chinesin mit ihrem Smartphone, auf dem Weg zum ewigen Eis auf dem Jungfraujoch.

Schweiz. Einfahren.

Im Zug von St. Gallen nach Bern. Kurz vor der Abfahrt rappelt es. Zwei Helme tauchen auf der Treppe auf. Darunter sind Jungsköpfe mit etwa 3-jährigen Stimmen die signalisieren, dass in den nächsten Stunden stimmlich keine Pause zu erwarten ist. Mama kommt auch. Auch ihre Stimme braucht keine Pause.
Jungs mit Helmen? Fahrradhelmen? Im Zug? Da ist es wieder. Das Kulturschöckli. Soviel Anklage an die pöse Welt, die nicht unter Muttis Kontrolle ist! Und ich bin ein potentiell gefährlicher Teil davon. Denke ich. Packe meine sieben Zwetschken und trage sie in den nächsten Waggon. Ich weiß. Meine Ohropax sind im Trolley vergraben, da komm ich jetzt nicht ran.

Das Radio erzählt mir, dass die Schweizer Pendler sind. Viele, viele pendeln täglich zu ihrem Arbeitsplatz. Stunden. Staustunden. Enge Zugstunden. Den meisten macht es nichts aus. Sagen sie. Sie leben in Dörfern oder sowas das aussieht wie ein Slum in Rumänien. Denn die Pendler wollen nicht in den Städten leben. Oder dort wo sie ihre Jobs haben. Mir wurde nicht ganz klar, warum. Aber darum sieht dieses Land auch so aus, wie es aussieht. Sie verlassen ihre rumänischen Dörfer im Morgengrauen und betreten sie nächtens wieder. Ihnen ist es egal, was da sonst noch abgeht. Hauptsache es herrscht Ruhe. Und die Kinder sehen etwas grünes.

Die Innenstädte sind Wochenendbordelle. Die jungen Pendler verlassen die Leere ihrer Wohnorte und fallen in die nächst liegenden Städte ein.  Dort schaffen sie sich alles vom Hals. Sauf. Gröl. Knall. Frust – Koma. Auch darum mag niemand in den Innenstädten leben. St. Gallen z. B., hört sich am Wochenende an wie die Reeperbahn in Hamburg. Ab Freitag 18 Uhr beginnt es. Mit diesem Geräusch. Das Platzen von Glas. Es hört irgendwann in den Morgenstunden wieder auf. Dann ist Sonntag, und die Innenstadt liegt ermattet da. Wie nach einem Gangbang. Jetzt nur noch schlafen und viel, viel Vaseline.
Bis zum nächsten Wochenende.
Sonst ist nichts. Goa nix.