Positives Schreiben V.

Wenn ich die Schweizer Nationalhymne höre, empfinde ich etwas. Denken tu ich auch was: Könnt das nicht ein wenig schneller gehen? «Trittst im Morgenrot daher…» Ja, da seh ich ihn, er tritt gerade aus dem Stall, in seinem genagelten Schuhen und in den Armeedrillichhosen, diesem unzerstörbaren Gewebe, gegen das die 1. Original Levis aus Segeltuch sich ausnahm, als wäre sie aus Seidenpapier. Und dann das kragenlose Hemd, hellblau, mit weißen und roten Fäden durchwirkt, und die gleißende Sonne, die über die Grate steigt, wie am ersten Schöpfungstag, das ist es, was ich sehe. Und dann die weiteren Worte: Hochherrlicher, Göttlicher, Ewiger, DU. Beten, knien und vor allem: «Wenn der Alpenfirn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet.» Ja, das geht mir nahe, dieses Pathos, das ist Poesie, das muss man dem Burschen erst mal nachmachen, Sapperlot aber auch. Da atmet man gleich tiefer, und die Brust schwillt, und ich bin auf unerklärliche Weise ein wenig stolz, und deswegen etwas peinlich berührt. Ja. Auch ich. Ein Auserwählter. Wie jeder andere, jeder beliebigen Nation auch, wenn er seinen Hymnen-Song hört.

Aber der Mann meiner Vorstellung hat was ganz anderes zu tun. Er betet nicht auf der Alp im Morgenfirn. Er karrt die Kuhscheiße aus dem Stall. Zum Beispiel. Warum soll er beten? Weil er frei ist? Zu seinem Ex-Herrn, der ihm die Freiheit geschenkt? Aber so weit ich die Geschichte kenne, hat der Mann im Drillich seine Freiheit erkämpft.

Und wenn die Sonne über den Graten prangt, dreht er sich um, geht zurück in den Stall und sagt: «He, Murat, wenn du fertig gemolken hast, dann mach den Stall fertig, und sieh zu, dass du dieses Mal nicht wieder mit dem Mistbesen die Krippen auswischt, sonst schieb ich dir den Stiel in den Arsch!»