Der «kleine Mann» und ich

Als mein Bart noch kein Bart war, hatte ich eine Schwäche für den «kleinen Mann». Diese Schwäche hatte allerdings eine starke Schwachstelle: Sie war irgendwie ideologisch. Der «kleine Mann», sagte diese Ideologie, ist ein guter Mann. Soviel zur Ideologie. Der «kleine Mann» war aber nicht gut. Wenigstens nicht zu meinesgleichen. Der «kleine Mann» sagte zu uns: «Integriert euch endlich!» Damit meinte er, wir sollten uns seinen Wertevorstellungen unterwerfen. Dann sagte er noch: «Lass dir die Haare schneiden, du verlauster Hippie-Gammler-Nichtstuer-Parasit!»

Später, als ich dann den Wehrdienst verweigert hatte, rief der «kleine Mann»:»Typen wie dich sollte man mit einem rostigen Büchsendeckel kastrieren!»

Aber wir liebten ihn weiter, den «kleinen Mann». Wir waren unverbesserlich in unserer «kleinen Mann»-Liebe. Wir suchten ihn dann auch im Süden. In Griechenland zum Beispiel. Da war er auch. Da fuhr er Taxi und legte uns rein. Kein Problem. Unsere Liebe war beinahe glühend. Nun, wir liebten vielleicht eher die Vorstellung vom «kleinen Mann». Das Idealbild. Das Ideal des Volkes. Der Rechtschaffenheit. Des Antiintellektuallismus. Denn Intellektuelle waren suspekt. Aber der kleine Mann hatte damals, als mein Bart noch kein Bart war, nicht so viel zu reden.

Heute ist das anders. Heute betet hierzulande so ungefähr jeder Politiker dieselben Dummheiten nach, die der kleine Mann beim Saufen am Stammtisch hinaus proletet. Nur meistens noch ein bisschen dümmer.

Was hat denn zum Beispiel der englische Premier Gordon Brown schon verbrochen?

Man hat ihn vor eine «kleine Frau» gestellt, die sich über Ausländer beklagt und ihn damit richtig festgenagelt hat. Danach sagte Brown zu seinen Mitarbeitern: «It was a desaster.» Und dass die «kleine Frau» eine ziemlich bornierte Person sei. Lag er damit etwa falsch? Wohl eher nicht. Aber so was kann einen heute die Wahlen kosten. Da wird der «kleine Mann» und die «kleine Frau» schön grantig, wenn ihnen solche Sachen zu Ohren kommen. Sie werden auch grantig wenn man ihnen sagt, dass man verblödet, wenn man nur noch die Scheiße reinzieht, die aus dem Fernseher rauskommt, und, dass einem nicht die Eier abfallen, wenn man sich für etwas anderes interessiert als für’s Häuselbauen und den Urlaub.

Ist der «kleine Mann» nichts anderes als ein Synonym für den unbedingten Willen zur Verantwortungslosigkeit und Alimentierung durch Staat, Clan oder einen Führer?

Whatever. Der «kleine Mann» ist wichtiger denn je.

Der «kleine Mann» wird möglicherweise in Griechenland die Regierung hinwegfegen. Er ist grantig. Er hat sich ein neues Auto gekauft und ein Haus, und jetzt weiß er nicht wie er seine Schulden bezahlen soll. Er findet, jemand anderes sollte das für ihn tun. Schliesslich hat ihm die Kredite ja aufgedrängt. Denn der «kleine Mann», und das bestätigt ihm täglich jeder Politiker, hat keine Schuld an den Zuständen. Es sind die anderen. Wer? Die anderen eben. Er will ja nur das Beste aller Leben. Das hat er sich verdient. Die anderen sind korrupt. Er tut ja nie niemandem nichts. Er liest ja nicht mal ein Buch.

Der «kleine Mann» und ich. Ich habe ihn in vielen Jahren studiert: In Fabriken, auf Baustellen, in Lagerhallen, Büros, in Almhütten, als Taxifahrer «Linkmichel» und so weiter. Es ist zwecklos. Wir werden keine Freunde mehr werden.