Der letzte Tiger in der Dämmerung

Wie schön. Diese Resonanz, die «die kleine Reminiszenz an die Kreuzschlitzschraube» ausgelöst hat. Welch schöne und aufschlussreiche Kommentare sie zeitigte. Nun, ist wieder Schluss mit lustig, und ich verlasse das Gebiet des Handwerks und der Berge.
Ich tauche wieder auf, als Gast des Peter Engstler Verlags, dessen gar nicht so kleines, aber hammermäßig assortiertes Verlagsprogramm ich allen ans Herz legen möchte. Googelt’s ihn, den Peter Engstler Verlag.
Ich lese da:

Samstag 20. März 2010, 20:30 Uhr
In der Buchhandlung Breiter Hof 6
Oberwaldbehrungen
D-97645 Ostheim/Rhön

Zum Abschluss dieser zwei Wochen als Fliesenleger, Zimmermann, Tischler, Faktotum, Bodenleger, Maurer noch ein Text, den ich letztes Jahr für die «Handwerks»-Ausgabe von «Obacht Kultur» geschrieben habe:

Der letzte Tiger

«Ich verachte jedes Handwerk.» Diesen Satz schrieb ein Genie. Es hieß Arthur Rimbaud (1854–1891), und mit gerade mal 19 Jahren wollte er auch kein Genie mehr sein. Wenigstens
kein dichtendes. Keine Zeile mehr. Der junge Mann verlor sich in Afrika, widmete sich dem Waffenschmuggel und artverwandten Geschäften. Geschäften, nicht Handwerk.
Es ist nicht überliefert, dass er jemals einen Finger krumm machte.
Mir gefiel dieser Satz. Damit konnte man provozieren. Nur war ich kein Genie wie Rimbaud. Vielleicht eine Art Pumpgenie. Und dieser unterfütterte Genius trieb mich immer wieder an die Stätten und in die Mühen des gemeinen Handwerks. Maloche, um meine Kreditwürdigkeit zu erhalten. Aber ich hatte keinerlei Interesse an bezahlter Arbeit. Aber so ist es eben: Es ist manchmal ein harter Job, ein Genie zu sein. Aber keines zu sein auch. Ich hatte also häufig mit Handwerk zu tun.
Schlimm genug. Aber in Wirklichkeit war es noch ärger: Ich gab den Handlanger der Handwerker. Gehilfe eines maulenden Zimmermanns. Ziegelschlepper von verkaterten Maurern. Täferablänger von zänkischen Schreinern. Oberflächenbearbeiter von schweigsamen Steinmetzen und Dachpappenträger trunksüchtiger Dachdecker.
Das ist für einen jungen Menschen ungesund. Diese Verachtung des Unabänderlichen. Sie gebiert Philosophen oder neurotische Selbsthasser.
Hundert Jahre nach Rimbaud war dann fast alles Handwerk. Das Handwerk des Schreibens, der Kameraführung, der Regie. Oder des Philosophierens. Im Gegenzug gab es die Kunst des Kabelschleppens und der Töpferei, Fliesenlegerkunst und die Kunst des Haareschneidens. Jawoll! Friseurkünstler und Dichterhandwerker. Nicht zu vergessen: das Handwerk des Tötens,
des Geldeintreibens, der Buchführung, des Storylinings und des Betrügens. Möglich, dass dieser Nonsense dem einen oder der anderen auf die Nerven fiel.
Und nach so vielen Jahren Handwerk, bin ich immer noch arbeitsscheu wie jeder andere
rechtschaffene Penner; immer noch wütend wie Adam, als Gott ihn aus Eden warf.
Handwerk ist absurd.
Und doch zum Sterben schön.
Die aufregendeste Fernsehsendung aller Zeiten heißt: «Der Letzte seines Standes». Wir sehen alten, lebenszähen Handwerkern bei der Arbeit zu; sehnigen Männern, die in wurmstichigen Manufakturen auf die überlieferte Art Filz herstellen, Frauen, die Hutbänder ziehen; Böttcher, die mit rasiermesserscharfen Äxten so kunstvoll auf halbe Baumstämme einschlagen, dass nach dem «Babuschka»-System immer kleinere Tröge entstehen. Es ist atemraubend und erschütternd. Als sähen wir in der Dämmerung den letzten Tiger durch die Taiga streifen. Wir blicken, melancholisch geworden, in eine Welt ohne Abfall. Sie versinkt vor unseren Augen. Wir sehen es, aufgewühlt und begeistert. Wir können nichts dagegen tun und wissen: Diese kleinen Filme werden bleiben. Eine Weile. Bis es irgendwann, in naher Zukunft, für diese Datenträger keine Abspielgeräte mehr gibt.
Diese Vorstellung hat etwas Närrisches.