Magie und Verlust. «Das Haus»

Heute haben die Mädchen zum ersten Mal, seit ich wieder zurück bin, davon gesprochen. Vom «Haus». Sie fingen damit an, als wir auf der Couch rumlümmelten und berühmte Dialoge von berühmten Zeitgenossen nachspielten.
«Jetzt hör mal auf, Ella!»
«Warum?»
«Weil’s nervt!»
«Ja, und du schimpfst!»
Das konnte sehr lange so lange weitergehen. Wenn man’s zuließ. Aber irgendeine sagte dann, das «Haus», und «schade» und so, und das Gespräch kam genau in dem Moment auf den Punkt, an dem ich es auch zu vermissen beginne.
Ja, es fehlt mir.

Am 25. Oktober um 8 h 22 sperrte ich es das letzte Mal zu und versenkte den Schlüssel im Postkasten, der dort Briefkasten heißt. Seither war hier einiges los gewesen, naja, «Buch-Wien», eine Lesung mit includiertem Auftritt als James Taylor Interpret, eine Jörg Fauser Lesung mit dem Verleger Alexander Wewerka, eine Menge neuer Bekanntschaften, eine Menge Gläser, einen Hauch Schweinegrippe und die brutale Überzeugung, dass ich an COPD leide, der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, dann das Ausforschen der Symptome, die sich aber, o Wunder, sofort verflüchtigten, als ich wieder in den Gym ging, um dort das zu tun, was ein Mann dort tun muss. Frauen auch. Aber anders.

Ich gebe zu, dass ich Wochen, bis Monate gebraucht habe, um mich mit dem sicheren Verlust des «Haus» abzufinden. Ja, Verlust. Eigentlich startete der Countdown, als ich begann es zu mögen. Also ziemlich genau, nachdem ich es das erste Mal betreten hatte. Dann sagte ich mir: «Fein, fein. Noch ganze 11 Monate. Wow!»
Dann, irgendwann einmal, ließ ich hinten das «Wow!» weg, und schon bald dachte ich: «Nur noch 6 Monate. 5, 4, 3.
Bei 2 Monaten angelangt, ging ich in Wochenrechnungen über, dann Tage.

Es war seltsam. Es war schmerzlich. Ich las die Gedichte von Raymond Carver «Gorki unterm Aschenbecher». Einige handelten von Menschen denen vom Arzt gerade eröffnet wird, dass sie noch drei Monate zu leben haben. So irgendwie fühlte ich mich auch. Gefangen in einer Frist, die gnadenlos verstreicht. No way out. Jeder Tag mehr, ist ein Tag weniger. Man kann nichts dagegen tun.
Ich fragte mich, wann der Zeitpunkt kommen würde, wann ich es akzeptieren könnte, der Moment einer leidlichen Erlösung.

Er kam ganz plötzlich. Und zwar in Heiden auf dem Postplatz, als ich auf den Bus wartete. Ich saß auf einer Bank, eine Woche vor der Abreise, und die Trauer war weg, aufgebraucht oder irgendwie ausgetrunken, die Flasche der Traurigkeit leer und ich wieder schlagartig nüchtern.

Aber hier, wo die Sonne es zur winterszeit kaum mehr in mein Fenster schafft, beginne ich langsam zu begreifen, dass mir die Weite des Himmels fehlt, dieses magische Licht und der Platz neben dem von den Ziegen entrindeten Haselstrauch, die Treppe auf der ich sass, mit dem ersten Glas des Tages und mich darüber wunderte, welche Wege die Sonne machte, wo genau sie den Horizont erst küsste und dann verglühte. Und der Mond, der über dem Wipfel der Kiefer hinweg wanderte, kalt und freundlich, und wie in der Nacht der Föhn einen Doppelnelson am Haus ansetzte, oh yeah, Mann, das war es, und ist vielleicht das, was Lou Reed mit «Magic and Loss» meinte: Magie und Verlust. «Das Haus.»